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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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Marsch gepackt, wie er ihr nun bevorstand, und wusste nicht, ob sie das Richtige mitnahm. Sie versuchte sich zu erinnern, was die Flüchtlinge, die ihr begegnet waren, dabeigehabt hatten. Meistens gar nichts. Oft waren sie sogar barfuß unterwegs gewesen. Honor schlüpfte aus ihren leichten Sommerschuhen und zog sich die schweren Stiefel an. Sie legte noch zwei Kerzen und Zündhölzer zu ihrem kleinen Vorrat und wickelte alles in ein Küchentuch.
    Sie konnte weder die Rosetten mitnehmen noch das Nähkästchen ihrer Großmutter, weshalb sie beinahe ihre Meinung geändert hätte. Schließlich öffnete sie das Kästchen und nahm den Porzellanfingerhut, den Nadelköcher und die emaillierte Schere heraus. Dann suchte sie noch die besonderen Stoffstücke aus ihrem Korb zusammen. Wegen der Erinnerungen, die sie mit ihnen verband, waren sie für Honor unersetzbar.
    Digger lag in der offenen Tür, um die wenigen kühlen Luftzüge zu genießen. Als Honor über ihn stieg, knurrte er sie nicht wie gewöhnlich an. Er weiß es, dachte Honor. Und er ist froh.
    Sie lief durch den Obstgarten. Die Äpfel wurden bereits rot, und die überreifen Pflaumen waren von Wespen übersät. Schließlich trat sie in den Wielandwald und ging festen Schrittes an Ahornbäumen und Buchen vorbei. Die Brombeerbüsche am Waldrand hingen voller Früchte, die sie nun nicht mehr pflücken würde. An den Bäumen prangte üppiges Laub, das sich am Scheidepunkt zwischen der Üppigkeit des Sommers und dem Verfall des Herbstes befand. Während die Eichenblätter noch strahlend grün waren, zogen sich bereits erste rote Streifen durchs Ahornlaub, das bald in seinen Herbstfarben auflodern würde.
    Von der Schwarzen hörte und sah sie nichts. Als sich Honor dem Waldstück näherte, das an dem Feld vorbeiführte, auf dem die Haymakers arbeiteten, hörte sie deren Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Sie ging tiefer in den Wald hinein, wo die Frau sich verstecken musste. Der Schrei einer Virginiawachtel begleitete sie: »Bot-weit, bot-weit!« In Amerika wurde der Vogel wegen seines charakteristischen Rufs auch Bobwhite genannt. Jack hatte Honor verspottet, als sie von ihm wissen wollte, welcher Vogel so rief; er hatte einfach nicht glauben können, dass es diese in Amerika so weit verbreitete Wachtelart in England nicht gab. Als sie vor über einem Jahr mit Thomas durch die Wälder gefahren war, hatte Honor nicht einmal Kardinal und Blauhäher gekannt. Sie hatte in Amerika viel lernen müssen – leider nicht nur Gutes.
    Nach einer Weile nahm Honor neben dem Geschrei der Wachtel noch das aufgebrachte Schimpfen eines Eichhörnchens wahr, das sich durch einen Eindringling gestört zu fühlen schien. Sie folgte dem Geräusch, ohne zu versuchen, ihre Anwesenheit zu verbergen. In der Hoffnung, dass die Frau ihr vertrauen würde, ließ Honor den Rock bewusst am Unterholz entlangstreifen und trat laut knackend auf tote Zweige.
    Die entflohene Sklavin hockte zwei Meter über dem Boden auf dem Ast einer Buche. Einige Äste darüber schimpfte das Eichhörnchen. Honor stellte sich auf eine Baumwurzel und hielt der Frau eine Pflaume entgegen. Die Frau blickte zu Honor hinab. Sie nahm die Pflaume zwar nicht, kletterte dafür aber nach einem kurzen Moment vom Baum. Sie war größer als Honor, hatte lange Gliedmaßen und eine gelbstichige Hautfarbe. Das Gesicht der Frau kam Honor bekannt vor, doch es dauerte eine Weile, bis sie es einordnen konnte. Die Schwarze war der erste Flüchtling gewesen, den Honor überhaupt gesehen hatte – die Frau, die sich hinterm Brunnen versteckt und ihr später einen Becher mit Wasser ans Bett gestellt hatte. Es war derselbe Becher, der nun ganz in der Nähe mit dem toten Flüchtling begraben lag. Honor erinnerte sich, dass Donovan die Frau damals geschnappt hatte; wahrscheinlich hatte er sie ihrem Besitzer zurückgebracht, und sie war erneut weggelaufen. Die junge Frau sah jetzt gesünder aus: Sie hatte ein wenig zugenommen, ihre Haut war frei von Pickeln, und die Augen leuchteten weißer. Auch wenn ihr Kleid schmutzig war, wirkte es noch recht neu. An den Füßen trug sie Männerschuhe und in der Hand einen Beutel, der dem von Honor ähnlich sah.
    Bei ihrer ersten Begegnung damals auf dem Hof hatte Honor der Frau ein Stück Brot hingehalten, vielleicht zog sie

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