Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
gefesselt. Sein Kinn ruhte auf seiner Brust, so als schliefe er wie der winterliche Garten. Ein mit Knoten versehenes Seil war fest um seine Stirn gewunden. Sein blondes Haar fiel nach vorn, verbarg eine Seite seines Gesichtes. Sir Thomas hob die Fackel, um den Gefangenen in Augenschein zu nehmen. Sein Zorn, von dem er sich gerade erst befreit hatte, regte sich von Neuem. Selbst die Haltung des Mannes war ein Sakrileg, ebenso wie sein bewusstloser Körper, der eine an Christus erinnernde Pose einnahm.
»Weck den Lollarden auf«, sagte er, »damit ich ihm Gelegenheit geben kann, seine irrigen Ansichten zu erkennen. Der Schmerz der Peitsche mag seinen Geist erhellen, sodass er zum wahren Glauben zurückkehren kann.«
Der Diener hob die Peitsche und zog sie über die nackte Brust des Gefangenen, der die Augen öffnete und seinen festen Blick aus den blauen Augen auf seinen Fragesteller richtete.
Plötzlich war die hohe und angenehme Stimme einer Frau zu vernehmen, die laut rief:
»Vater, bist du da?«
Erschrocken bedeutete Thomas, der sofort Megs Stimme erkannt hatte, dem Diener mit einer Handbewegung, er solle sich weiter in die Dunkelheit zurückziehen. Dann rief er in ungewöhnlich scharfem Ton.
»Bist du das, Margaret? Du weißt doch, dass du diesen Teil des Gartens nicht betreten darfst. Wo bist du?«
Ihr Ton klang gedämpft, als sie antwortete:
»Ich bin beim Fischteich, Vater. Ein Bote des Königs ist mit einer Nachricht für dich eingetroffen.«
»Bleib, wo du bist. Ich komme zu dir«, rief er. Dann zischte er dem Diener zu: »Bring ihn zum Pförtnerhaus zurück.« Er deutete mit einer Kopfbewegung den Weg an, den der Diener mit dem Gefangenen nehmen sollte.
»Aye, Mylord. Der Pförtner möchte Euch daran erinnern, dass dies jetzt der zehnte Tag ist und dass nach dem Gesetz …«
»Der Pförtner erinnert den Rechtsberater des Königs an das Gesetz? Wie überaus umsichtig von ihm. Nun, dann sag ihm, dass ich die Gesetze genauso gut kenne wie jeder andere Mann in England, und dem Gesetz nach darf ein Gefangener, der der Ketzerei verdächtig ist, jederzeit befragt werden. Und dasselbe gilt im Übrigen auch für einen Diener, der etwas für Ketzer übrighat.« Sein Blick begegnete dem des Gefangenen. Thomas sah weg. »Bring ihn zurück in den Stock«, sagte er, als er in Richtung Fischteich davonstolzierte.
Das kalte Licht des Mondes spiegelte sich auf der leicht gekräuselten Oberfläche des Wassers, über das der Wind strich. Und es fiel auf das blasse Gesicht seiner Tochter unter ihrer samtenen Kappe. Sie hatte die Arme fröstelnd um ihren Oberkörper geschlungen.
»Es tut mir leid, Vater. Ich dachte nur, dass du …«
Er wurde sofort milder.
»Wenn ich gerade ein wenig barsch war, dann nur, weil ich um deine Sicherheit besorgt bin. Die Wärter lassen Samson nachts frei herumlaufen. Ich will nicht, dass er dir Angst macht.«
»Aber dir macht er doch auch keine Angst.«
»Ah, ja, Tochter. Aber wie du weißt, bin ich sehr vertraut mit diesem Tier. Wo ist der Bote des Königs?«
»In unserer Bibliothek. Genau genommen sind es zwei Boten. Der erste kam von Bischof Tunstall. Er hat mir seine Nachricht ausgehändigt, nachdem ich ihm versichert hatte, dass ich sie dir persönlich übergeben würde. Aber der Bote des Königs … ich dachte …«
»Es war richtig, dass du mich sofort benachrichtigt hast«, sagte er, »aber das nächste Mal schickst du besser einen von den Bediensteten.«
Den Arm um ihre Schultern gelegt, führte er sie die vordere Treppe hinauf. Die dunkle Fassade des Ziegelbaus ragte über ihnen auf, ihre schwarzen Fenster erschienen wie allwissende Augen. Als sie sich der Bibliothek näherten, konnte Thomas sehen, wie der in den Farben der Tudors gekleidete Bote vor dem Kamin ungeduldig auf und ab ging. Es war besser, ihn nicht allzu lange warten zu lassen. Er wünschte seiner Tochter an der Tür eine gute Nacht und sah ihr zärtlich nach, als sie knickste und dann mit raschelnden Satinröcken im Schatten jenseits des Saales verschwand.
Der Bote war ein vertrautes Gesicht, das Thomas bei Hofe schon oft gesehen hatte. Mit einem kurzen Nicken nahm er die Schriftrolle entgegen und brach das rote Wachssiegel des Königs. Während er die Worte rasch überflog, verließ ihn der Mut.
»Dies erfordert eine Antwort«, sagte er, ohne aufzublicken. »Jetzt aber ist es schon sehr spät. Ich werde darüber nachdenken und Euch morgen ein Antwortschreiben übergeben.« Er zog an einer Schnur,
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