Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
Königs. Öffnet die Tür!«
Ein kurzer Blick und ein Nicken. Kate schnappte sich die alte Wycliffe-Bibel und rannte über die Hintertreppe der Druckerei nach oben in ihr Schlafgemach. Sie hörte jemanden laut rufen, dann gedämpfte Stimmen, erkannte Johns wohlmodulierten Ton. Sie sammelte sich, stieg die Treppe hinunter und betrat den Buchladen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Kirchendiener und zwei Soldaten ihren Bruder abführten.
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More ist ein Mann mit den geistigen Fähigkeiten eines Engels und von einzigartiger Gelehrsamkeit … Denn gibt es einen gütigeren, bescheideneren und freundlicheren Mann als ihn? Einen Mann, der sich, so wie es die Zeit erfordert, manchmal von wunderbarer Heiterkeit und manchmal von gleichermaßen traurigem Ernst zeigt. Ein Mann für alle Jahreszeiten.
Robert Witton »Lobrede auf Sir Thomas More«, 1520.
D er Freitag war Thomas Mores Lieblingstag. Am Freitag nach der täglichen Messe, wenn das Te Deum und der letzte Psalm verklungen waren, zog er nicht wie üblich seine gestreifte Robe an, um zum Lincoln’s Inn zu gehen und dort eine juristische Vorlesung zu halten, und er ging nicht zum Black Friars, wo er sich als Präsident des Unterhauses mit Nachdruck dafür einsetzte, dass das Parlament die Gelder für das Frankreichunternehmen des Königs bewilligte. Gekleidet in den scharlachroten Kapuzenmantel der mächtigen Seidenhändlergilde, ersparte er sich zudem den kurzen Weg zum Zunftsaal in der Ironmonger Lane, um von seinen jüngsten Verhandlungen mit der Hanse zu berichten. Genauso wenig wie er sich die goldene Kette der Tudors umlegte und mit seiner persönlichen Barkasse den Fluss nach Westminster hinunterfuhr, um an der Ratsversammlung des Königs teilzunehmen. Er reiste nicht einmal nach Oxford, wo er als Kämmerer gedient hatte, um über die irrgläubigen Gelehrten dort ein Urteil zu sprechen.
Nein, die Freitage gehörten ihm. Ihm ganz allein.
Nachdem Sir Thomas seine Familienmitglieder nach der obligatorischen Messe entlassen hatte, damit sie ihren persönlichen Beschäftigungen nachgehen konnten, blieb er allein in der Kapelle zurück, ausgestreckt auf dem Boden vor dem heiligen Kruzifix liegend. Erst wenn seine Gliedmaßen vor Erschöpfung steif geworden und seine Gedanken so verworren wie die Knotenschnüre der kleinen Peitsche waren, würde er sein Flagellum hervorholen, um sich zu geißeln.
Der erste Hieb über seine linke Schulter galt seinem Patron und ehemaligen Freund. Wolsey – Wolsey mit seinem Kardinalshut. Diese ersten Striemen brachte Sir Thomas sich mehr zornig als reumütig bei, um seinen Rhythmus zu finden, um die Tür zur Ekstase des Schmerzes aufzustoßen. Wolsey! Ein Kardinal! Ein Kardinal, der heimlich verheiratet war. Ein Kardinal, der sowohl über die Macht des Klerus verfügte als auch eine Ehefrau hatte.
Dann folgten drei weitere Striemen für seinen Vater John More, den Rechtsgelehrten. Seinen Vater, den er erfreuen, den er lobpreisen musste. Seinen Vater, dem er stets zu gehorchen hatte.
Dann der erste Schlag über die rechte Schulter, noch wütender, während der Zorn tief in ihm brodelte. Zorn auf Luther und seine furfures , auf William Tyndale, diesen Affen von einem Übersetzer. Merda, stercus, lutum . Kot. Mist. Dreck. Gefährliche, verbrecherische Ketzer! Jetzt atmete er bereits schwer. Der eine hatte sich eine hurende Nonne zur Frau genommen, und der andere lebte zwar wie ein Mönch, wagte es aber dennoch, die Ehe für den Klerus zu fordern.
Dann einmal tief einatmen und zwei weitere Schläge. Links. Rechts. Diesmal als Buße für seine Sünden, als Bezahlung für sein Vergnügen. Einen Schlag für seine verstorbene Frau, die junge und gelehrige Jane. Er hatte allzu großen Gefallen an ihr gefunden. Einatmen. Wegen seines leidenschaftlichen Verlangens nach ihr hatte er sogar seine kleine Zelle im Kapitelhaus, die Zelle eines Kartäusermönchs, verlassen. Ausatmen. Und einen für seine zweite Frau. Lady Alice – deren scharfe Zunge für jeden Mann schon Geißel genug war. Sie hatte einen starken und unerbittlichen Willen.
Links, rechts. Einen Schlag für seinen Sohn. Zwei, drei. Um für Alices Tochter zu bezahlen. Und dann für Janes Töchter.
Das Brennen begann in seiner Schulter und breitete sich zwischen seinen Schulterblättern aus, kleine Flammenzungen leckten an seiner Haut, die bereits von seinem härenen Hemd wundgescheuert war.
Zwei weitere Striemen für Meg, die Tochter, die er am meisten liebte.
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