Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
worauf sogleich ein Diener erschien. »Sam wird Euch ins Gästehaus bringen, wo Ihr ein Bett und eine Erfrischung findet, oder was auch immer Ihr benötigt. Ihr werdet feststellen, dass es in Chelsea House nicht an Gastfreundschaft mangelt. Kommt nach der Prim wieder hierher in die Bibliothek, dann werde ich Euch meine Nachricht für Seine Majestät übergeben.«
Mit einem schweren Seufzer legte Thomas das Dokument des Hofes auf seinen Schreibtisch und setzte sich in den Sessel neben dem Kamin. Er rieb sich über seine gefurchte Stirn, während er nachdenklich in die Glut starrte. Also. Jetzt ist es so weit. Du kannst dich nicht länger davor drücken, sagte er sich. Es hatte Andeutungen gegeben, dunkle wie auch offensichtlichere, aber er war stets in der Lage gewesen, sich dieser Aufgabe zu entziehen. Jetzt aber war sie nicht mehr zu umgehen, die direkte Aufforderung von Heinrich VIII ., dem Verteidiger des Glaubens – ein Titel, den sein König vor allem ihm verdankte, war er es doch gewesen, der die Widerlegung der lutherischen Doktrin geschrieben hatte –, den König in seiner »großen Sache« zu unterstützen.
Im Raum schien es plötzlich kälter geworden zu sein. Er fröstelte, fachte durch sein Zittern das Brennen unter seinem härenen Hemd an. Die in sich zusammenfallenden Kohlen im Kamin seufzten, so als wollten sie ihn noch einmal daran erinnern, dass es höchst riskant war, einem König, ganz besonders diesem König, eine Bitte abzuschlagen. Thomas war jetzt einundfünfzig Jahre alt, und er spürte jedes neue Lebensjahr in seinen Knochen. Er hatte Heinrich stets gut gedient, aber anscheinend wollte er ihm noch immer nicht erlauben, sich zur Ruhe zu setzen. Wie konnte er ablehnen, ohne seinen König zu erzürnen? Wie aber konnte er ihn unterstützen und dabei sein Ansehen bewahren, das er in der Öffentlichkeit genoss? Er erhob sich müde und stocherte im Feuer herum, schob die Kohlen zusammen. Sein Blick fiel auf ein zusammengeschnürtes Päckchen.
Ach ja, Meg hatte ja etwas von einer zweiten Botschaft gesagt. Er erkannte Cuthbert Tunstalls Siegel, das er mit wesentlich mehr Begeisterung brach. Das Päckchen enthielt ein kleines Buch und einige Flugblätter. Obwohl die beiden Kollegen sich häufig gegenseitig Bücher zukommen ließen, sah sich Thomas dieses Buch nun voller Neugier und auch mit einiger Überraschung an. Es handelte sich um Tyndales Neues Testament auf Englisch! Er hatte bereits von dieser Übersetzung gehört, bis jetzt jedoch noch nie ein Exemplar in den Händen gehalten, da alle Texte, die die lutherische Doktrin und Anmerkungen enthielten, durch den jüngsten Mahnbrief des Bischofs ausdrücklich verboten waren.
Ein Stück Pergament fiel heraus und flatterte zu Boden. Thomas bückte sich, um es aufzuheben. Ein Brief, auf Latein verfasst, so wie das bei der Korrespondenz zwischen More, Bischof Tunstall und Kardinal Wolsey stets der Fall war, erteilte More ausnahmsweise die Erlaubnis, das Buch behalten zu können, zusammen mit der inständigen Bitte, dabei zu helfen, die »Söhne der Schändlichkeit«, die Luthers Gift in England verbreiteten, ausfindig zu machen. Tunstall führte weiter aus, dass Sir Thomas ihrer gemeinsamen Sache am besten dienen könne, indem er eine Widerlegung Tyndales schrieb, die veröffentlicht und verteilt werden sollte. Hierfür bot er auch ein angemessenes Honorar an.
Neugierig geworden, schlug Thomas das englische Neue Testament auf und blätterte darin, im schwachen Kerzenlicht blinzelnd. Tyndale war sowohl ein fähiger als auch ein durchtriebener Übersetzer. Jede Seite fachte Thomas’ Zorn weiter an: die derbe angelsächsische Wortwahl, die völlige Schmucklosigkeit der Diktion, der Gebrauch des Wortes Gemeinde anstelle von Kirche , des Wortes Ältester anstelle von Priester , was die heilige Kirche bewusst ihres Anspruchs beraubte, der Leib Christi auf Erden zu sein. Selbst der Gebrauch von bereue und nicht tue Buße war ein offenkundiger Angriff gegen das Ablasssystem der Kirche. Er überflog die ketzerischen lutherischen Kommentare, die gegen die Kirche gerichtet waren, und spürte, wie heftiger Zorn in ihm aufstieg. Coenum! Exkrement! Ein übles, ketzerisches Dokument!
Es juckte ihn in den Fingern, sogleich mit der Widerlegung zu beginnen.
Thomas würde Heinrich nicht dabei helfen, aus seiner Hure eine rechtmäßige Ehefrau zu machen. Aber hier konnte er etwas ausrichten. Sogar ohne jede Bezahlung. Er klappte das kleine Buch zu, dieses gottlose
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