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Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)

Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)

Titel: Die englische Ketzerin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brenda Vantrease
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sie mit ihren eigenen Händen erschaffen. Es hatte erst durch sie zu existieren begonnen. Die Falte in der Flanke war nicht so schlimm, aber das Loch im Horn ließ sich nicht mehr ausbessern. Doch das Tier hatte ein wunderschönes Auge, mit einem winzigen Lichtpunkt aus weißem Seidengarn im Blau der Iris. Auf dieses Auge war sie sehr stolz. Der Gedanke, das alles wegzuwerfen, schmerzte sie doch sehr. Sie strich den Wandteppich glatt und deckte den obersten Teil mit der Hand ab. Nun, das war doch gar nicht so schlecht. Nur noch ein paar Stiche, um die spärlicheren Stellen auszufüllen – eines Tages würde sie den Teil mit dem Horn einfach wegschneiden. Es musste ja schließlich nicht unbedingt ein Einhorn sein. Vielleicht wurde daraus ein Pferd.
    »Kate Gough, du bist genauso verrückt wie der Maler des hässlichen Porträts«, murmelte sie vor sich hin. Aber sie konnte sich nicht überwinden, die Stickerei wegzuwerfen, sondern legte sie sorgfältig zusammen und verstaute sie in einer Truhe, um sich irgendwann wieder damit zu beschäftigen.
    Als Sir Thomas hinter dem Sarg seines Vaters herging, stimmten die Glocken von St. Mary-le-Bow das Totengeläut an. Es war ein wahrer Segen, dass der Friedhof der Kirche von St. Lawrence Jewry in der Nähe des väterlichen Zuhauses in der Milk Street lag. Der Tag war kalt und grau. Die Kälte kroch Thomas so tief in Körper und Seele, dass er schon fürchtete, seine Kräfte könnten ihn verlassen. Auf diesen Tag war er einfach nicht vorbereitet gewesen. Er hatte das merkwürdige Gefühl, aus seiner Verankerung gerissen worden zu sein und auf einer windgepeitschten See dahinzutreiben. Sir John Mores Hinscheiden in seinem achtzigsten Winter konnte man kaum als unerwartet bezeichnen. Aber für Thomas war es das. Thomas hatte sich diese Welt niemals ohne seinen Vater vorstellen können.
    Der Trauerzug kam an den Stätten seiner Jugend vorbei, die das bedrückende Gefühl in seinem Herzen zu einer düsteren Vorahnung werden ließen. Wie konnte das sein? Wie konnte dieser berühmte Mann des königlichen Gerichts, dieses Bollwerk gegen die Macht des Chaos, dieser eiserne Verteidiger von Pflicht, Disziplin und Gesetz von einem verdorbenen Magen gefällt werden? Welcher Ordnung sollte das entsprechen? Es kam Thomas so vor, als würde sich seine Metapher für Gott, den Vater, in Luft auflösen. Gott, der Vater, lebte nur so lange sein eigener Vater lebte.
    Vor vielen Jahren war er genau diese Gasse entlanggegangen, an der Kirche St. Mary Magdalen vorbei, in der jetzt die Glocke mit dem Trauergeläut erklang. Ein Bild, das er versucht hatte, tief in seinem Gedächtnis zu vergraben, stand ihm plötzlich wieder so deutlich vor Augen, als wäre es erst gestern gewesen: er, Thomas, als Knabe. Seine kleine Hand in der großen Hand seines Vaters, auf dem Weg zu John Morton, dem damaligen Erzbischof von Canterbury und Lordkanzler von England, wo er Page werden würde. Unterwegs hatte ihm sein Vater einen Vortrag über die Pflicht gehalten. In den Dienst des einflussreichsten Mannes von England zu treten sei für einen Jungen eine großartige Gelegenheit. Er hatte Thomas ermahnt, seine Sache gut zu machen, seinen Vater nicht zu blamieren und seine Pflicht zu tun. Eines Tages werde er selbst ein großer Mann sein.
    Sie waren an dem hohen, steinernen Brunnen in West Chepe vorbeigegangen. Damals war es ein ebenso trostloser und trüber Tag gewesen. Und so wie heute standen auch damals ein paar Menschen am Brunnen, um ihre Eimer mit Wasser aus dem Tyburne River zu füllen. Auf dem Tyburne Hill war gerade ein Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Ein Lollarde, hatte sein Vater gesagt, als Thomas angesichts des Geruchs von Rauch und versengtem Fleisch die Nase gerümpft hatte. Er hatte ihm erklärt, dass das Lollardentum eine Form der Anarchie sei, ein Übel, das darauf abziele, die Ordnung der Welt zu zerstören. Es war das erste Mal gewesen, dass Thomas diesen Begriff gehört hatte.
    Als die Prozession auf ihrem Weg zur Kirche die St. Lawrence Lane hinaufging, kamen sie an der Blossoms Inn vorbei. Ein paar neugierige Gäste standen vor der Tür und sahen sich den Trauerzug an. Thomas erkannte nur den Gastwirt, der seinen Hut abnahm und den Kopf respektvoll neigte. Er und sein Vater waren an jenem Tag vor so langer Zeit bei ihm eingekehrt und hatten etwas getrunken, während der Vater seinen Sohn weiterbelehrte. Damals wurde Thomas zum ersten Mal bewusst, dass John More die Zukunft seines

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