Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
Alices Umschläge und Tränke brachten keine Linderung. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft aufzustehen. In seinen Fieberträumen war er wieder ein kleiner Junge, der sich in einem dunklen Wald verirrt hatte und nach seinem Vater rief, der ihm jedoch nicht antwortete.
Am vierten Morgen brachte sein Schwiegersohn Roper die Nachricht, dass man, während der Lordkanzler noch um seinen Vater trauerte, Wolsey wegen Verrats vor Gericht gestellt und ihn zum Tod auf dem Schafott verurteilt hatte. Als Thomas hörte, dass Wolsey dem Scharfrichter entkommen war, weil ihn auf dem Weg zum Richtblock überraschend ein natürlicher Tod ereilt hatte, lächelte er. Wenigstens war dem alten Taugenichts ein würdeloser Tod durch das Beil des Henkers erspart geblieben. Es war ihm wieder einmal gelungen, die sorgfältig ausgearbeiteten Pläne des Königs zu durchkreuzen.
Thomas rief nach Barnabas, damit er ihm beim Anziehen half. Dann taumelte er, hustend und Schleim spuckend, in sein Studierzimmer hinunter. Er trank die Brühe, die Alice ihm brachte, damit sie endlich Ruhe gab, dann nahm er seine Feder zur Hand. Die Tatsache, dass man Wolsey verurteilt hatte, konnte nur eines bedeuten: Heinrich hatte beschlossen, endgültig mit Rom zu brechen. Vielleicht nicht heute, vielleicht auch nicht morgen, aber gewiss schon sehr bald. Thomas More wusste, dass er dann auch von ihm verlangen würde, sich zwischen der Krone und der Kirche zu entscheiden. Und er musste sich entscheiden. In der Zwischenzeit würde er jedoch die Welt mit einer solchen Flut von Brandbriefen gegen die Ketzer überziehen, dass William Tyndale bereits einen ersten Vorgeschmack von den Flammen des Scheiterhaufens bekam.
Thomas würde den Weg durch den dunklen Wald finden. Die Vorstellung einer menschlichen Fackel würde seinen Weg erleuchten.
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Das Herz einer getreuen Ehefrau [ist das] kostbarste Geschenk, das ein Mann in dieser Welt erhalten kann.
William Tyndale zum siebten Gebot.
T homas Cromwell verließ ärgerlich das Privatgemach des Königs. Die Unterredung mit Heinrich und dem Agenten, der ihn auf Bitten des Königs hin begleitet hatte, hatte eine völlig unerwartete Wendung genommen.
Cromwell war nicht gerade begeistert gewesen, als Heinrich ihn fragte, ob er imstande war, ihm jemanden zu nennen, auf dessen absolute Loyalität und Verschwiegenheit man vertrauen könne. Es sollte jemand sein, der die Ohren offen hielt und leicht an Informationen herankam und der auf dem Kontinent Gutachten für seine »große Sache« zusammentrug, um sie dann dem Papst vorzulegen. Das konnte nur eines bedeuten: Wenn der König noch immer Stellungnahmen einflussreicher Gelehrter sammelte, stand der Bruch mit Rom nicht unmittelbar bevor, so wie er es sich erhofft hatte.
Auf die Frage des Königs hin war ihm sofort Sir Thomas Elyot eingefallen. Nicht dass der Mann vertrauenswürdig gewesen wäre. Aber er war ein Bekannter, er war adelig, und er suchte Arbeit. Thomas Cromwell wusste durchaus, dass es von großem Nutzen sein konnte, einem Parlamentarier, der in Geldschwierigkeiten steckte, einen Gefallen zu tun. Der König schien mit seiner Wahl durchaus zufrieden zu sein. Er wies Elyot an, sich mit allen Ausgaben, die bei seinem Auftrag anfielen, direkt an Master Cromwell zu wenden. Für Cromwell hörte sich das gut an. Wenn er der Zahlmeister war, würde dieser Bursche irgendwann noch tiefer in seiner Schuld stehen – und er selbst wäre stets über alles bestens informiert.
In der Annahme, dass die Unterredung damit beendet sei, hatte Cromwell sich verbeugt und sich zum Gehen gewandt, aber Heinrich hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
»Ihr mögt Euch vielleicht fragen, Master Cromwell, warum wir, in Anbetracht unserer kürzlich geführten Unterhaltung mit Euch und Erzbischof Cranmer, noch immer versuchen, Stellungnahmen in dieser Angelegenheit einzuholen. Nun, das tun wir nicht. Eurem Rat folgend, haben wir einen anderen Weg gewählt.«
»Aber Euer Majestät sagte … ah, ich verstehe. Eine List. Sehr klug von Eurer Majestät.«
Er war tatsächlich einen Moment lang beunruhigt gewesen. Diese Boleyn war ihm zwar völlig egal, aber endlich die katholische Königin loszuwerden, konnte der Sache der Reformation nur nützen. Und sich von Rom zu lösen, würde der Staatskasse guttun – man denke nur an all den Reichtum, all die Ländereien, das Gold und Silber, all die Schätze in Englands Klöstern und Kirchen. »Stellt Euch vor, wie es wäre, wenn all das der Krone
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