Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
aufzusuchen. Gleich morgen würde sie Heinrich fragen, ob sie in einer Ecke des Raumes einen schlichten Altar aufstellen durfte. In der Zwischenzeit würde sie sich anders behelfen müssen. Ihre englische Bibel sagte ihr, sie solle »in ihre Kammer« gehen, aber sie vermutete, dass dies einfach nur bedeutete, dass ein frommer Christ aus seinen Gebeten kein öffentliches Schauspiel machen sollte. Schließlich kniete sie sich neben dem mit einem Himmel und schweren Vorhängen versehenen Bett nieder. Den kostbaren samtenen Morgenmantel legte sie sich so zurecht, dass sie nicht direkt auf dem kalten Steinboden knien musste. Sie hielt nämlich nichts von der Kasteiung des Fleisches.
Sie hatte gerade ihre Gebete gesprochen und sagte noch das Vaterunser auf, als sie aus dem Kabinett der Königin ein Geräusch hörte. Vielleicht hätte sie dort beten sollen; vielleicht war die Bibel doch wörtlich zu nehmen, und der Heilige Geist war gekommen, um sie zu ermahnen.
Aber es war kein Geist, weder heilig noch sonst etwas, der hinter der vertäfelten Wand hervortrat. Es war ein Mann aus Fleisch und Blut.
»Euer Majestät, ich habe Euch heute Abend nicht mehr erwartet. Ich meine, es ist schon sehr spät. Meine Hofdamen schlafen bereits. Was ist, wenn sie aufwachen und …«
»Dann werden wir eben sehr leise sein müssen«, sagte er und begann sein Wams auszuziehen.
Er hatte sich bereits bis auf sein langes Hemd und seine Strümpfe entkleidet, bevor sie endlich ihre Sprache wiederfand.
»Euer Majestät, ich muss protestieren.«
»Dann müsst Ihr leise protestieren, wenn Ihr Eure Hofdamen nicht aufwecken wollt.«
Anne wurde einen Moment lang von Panik ergriffen. Sie wusste, dass in diesem Augenblick nicht nur ihre Jungfräulichkeit, die sie sich bis zum heutigen Tag durch unterschiedlichste Methoden bewahrt hatte, auf dem Spiel stand, sondern ihre gesamte Zukunft. Sie wich vor ihm zurück.
Der Ausdruck auf seinem Gesicht machte ihr beinahe Angst. »Mylady, Ihr habt von mir Geschenke erhalten, die einen Fürsten arm gemacht hätten. Ich habe Euch, entgegen den Wünschen meiner Ratgeber, gestattet, Euch mit ketzerischen Priestern Eurer Wahl zu umgeben. Und befindet Ihr Euch nicht gerade in den Gemächern der Königin? Habe ich Euch noch immer nicht von meinen lauteren Absichten überzeugen können? Gütiger Himmel, wollt Ihr Eurem König nicht einmal im Bett der Königin beiliegen?«
Sie machte noch einen Schritt rückwärts und holte tief Luft. Ging sie zu weit, wenn sie ihn jetzt abwies? Aber hatte nicht auch ihre Schwester Mary solche Geschenke erhalten, bevor er sie einfach hatte fallen lassen? Dabei hatte sie dem König sogar einen Bastard geboren. Dieser Gedanke verlieh ihr Mut.
»Aber ich bin nicht die Königin, Euer Majestät. Und bevor ich es nicht bin, werde ich dem König nicht beiliegen.«
Er streckte die Hand aus und zog sie grob an sich, küsste sie fordernd. Sein Atem ging schnell, er griff unter ihren Morgenmantel. Durch den dünnen Stoff ihres Hemdes spürte sie seine Hand, die heiß auf ihrer Brust lag. Ihr Körper wollte sich schon fügen. Seit man ihr Percy weggenommen hatte, war sie nicht mehr so sehr in Versuchung gewesen. Der süße Percy. Der Gedanke an ihn stählte ihren Willen.
»Euer Majestät, ich kann nicht. Es wäre eine Sünde …«
Sein Atem in ihrem Ohr war so heiß wie seine Hand auf ihrer Brust, so heiß wie ihre Haut unter ihrem viel zu warmen, samtenen Morgenmantel.
»Dann leiht Eurem König wenigstens Eure Hand«, forderte er sie mit heiserer Stimme auf.
»Das kann ich tun«, sagte sie, und ihre Finger begannen zu arbeiten, mit einer Geschicklichkeit, die sie sich am französischen Hof angeeignet und die sie bei Percy vervollkommnet hatte. »Das kann ich tun, aber nicht mehr«, flüsterte sie, als sich der Samen des Königs in ihre Hand ergoss.
27
Weder kränkte noch widersprach er [Thomas More] ihm [seinem Vater Sir John More] mit einem einzigen Wort oder einer einzigen Tat.
Cresacre More, »The Life and Death of Sir Thomas More«, 1631.
I m Laufe des Herbstes waren die beiden Übersetzer gut mit dem Pentateuch vorangekommen. Sie übersetzten direkt aus dem Hebräischen, dessen Schrift Kate mehr wie tanzende Linien als richtige Worte vorkam. Wie fühlte es sich wohl an, wenn man wusste, dass man mit seiner Arbeit das Leben von vielen Menschen veränderte? Manchmal beneidete sie ihren Mann fast wegen seines Verstandes und seiner Zielstrebigkeit und fragte sich, ob sie, wenn sie
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