Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
Es ist wahrlich schwer zu glauben, dass dies ein und derselbe Mann sein soll, der Utopia schrieb und der einst vehement für humanistische Ideen und die neue Gelehrsamkeit eintrat. Damals war er sogar mit Erasmus einer Meinung, dass Reformen unabdingbar seien.«
Sie befanden sich in der Kapelle der Abtei, wo der Prior wie die anderen Mönche seine turnusmäßigen Pflichten zu erledigen hatte. Heute war es seine Aufgabe, das Holz des geschnitzten Lettners mit Leinöl einzureiben und die goldenen und silbernen Altargefäße zu polieren: den kunstvoll gearbeiteten, mit Edelsteinen verzierten Kelch, den Hostienteller, das Ziborium.
»Fragt Ihr Euch denn nicht auch hin und wieder«, meinte John und zeigte auf das bunte Glas der gotischen Fenster und das Gold des Altars, das im vielfarbigen Licht der Sonnenstrahlen glänzte, »was Jesus zu all dieser Pracht und diesem Prunk sagen würde?«
Der Prior lächelte.
»Ich weiß, was Ihr denkt. Wir sollten den Kirchenschatz verkaufen und das Geld unter den Armen verteilen. Aber ich möchte Euch an die Worte unseres Herrn erinnern, mein lieber Freund, der, als Judas Ischariot Einwände gegen eine allzu verschwenderische und kostbare Form der Verehrung erhob, sagte: ›Die Armen habt ihr immer bei euch.‹«
»Ihr müsst mich nicht an das erinnern, was die Heilige Schrift sagt. Diese Worte sprach Jesus jedoch anlässlich seiner Salbung vor seiner Kreuzigung. Wir aber feiern einen lebendigen Christus in Geist und Wahrhaftigkeit, indem wir ihm und nicht der Frau nacheifern, die ihn mit teurem, wohlriechendem Öl für das Begräbnis gesalbt hat – oder den Priestern des Tempels.«
Der Prior neigte den Kopf, was als Zustimmung aufgefasst werden mochte.
»Bedenkt aber auch dies, solange diese Altargefäße hier stehen, kann ich weiter unserer Sache dienen. Sie sind sowohl Schutz als auch Tarnung für mein Tun. Und sie haben einen anderen, eher praktischen Nutzen. Diesen Geldbeutel, den ich Euch gab. Nun, es ist nicht das erste Mal, dass sich ein goldener Kerzenständer in eine gedruckte Bibel verwandelt. Diesen Leuchter hier haben wir durch einen aus vergoldetem Kupfer ersetzt. Sein Licht wirft einen ebenso schönen Glanz auf die Hostie wie der goldene, und sollte der Erzbischof hier erscheinen …« Er zuckte mit den Schultern. »Schon bald wird es hier sowieso keinen einzigen Leuchter mehr geben, denn König Heinrich wird diesem Schatz sicher nicht widerstehen können. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet das, mit dem wir den Friedensfürsten feiern, nun dazu dienen wird, den Krieg gegen Frankreich zu finanzieren, nicht wahr?«
John nahm den Kerzenleuchter aus falschem Gold und wog ihn in der Hand.
»Nun, für diesen hier trifft das jedenfalls nicht zu. Ich danke Euch. Auch im Namen von William Tyndale.«
Der Prior griff in seine Soutane und zog ein Stück Papier heraus, das er auf dem Altar auseinanderrollte.
»Hier ist eine Karte, auf der alle Orte, wo Ihr Gemeinden findet, die Euch unterstützen werden und die sich freuen, Euch predigen zu hören, mit einem G gekennzeichnet sind. Prägt Euch die Karte gut ein und verbrennt sie dann. Und hier ist ein Dokument, das Euch als Boten der Abtei ausweist, solltet Ihr wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten, weil man Euch für einen Landstreicher hält. Vorerst könnt Ihr jedoch erst einmal hierbleiben und Euch erholen.« Er übergab John die Dokumente. »Man sagte mir, dass Ihr geheiratet habt.«
»Das ist richtig. Ein Priester aus Eurer Abtei hat uns getraut.«
»Hat sich die Wahl als eine glückliche erwiesen?«
»Ja, eine sehr glückliche Wahl. Wir erwarten ein Kind. Es wird eine Art Weihnachtsgeschenk werden.«
Der Prior lächelte matt.
»Nun, ich denke, dann solltet Ihr ganz besonders vorsichtig sein, mein Freund. Ihr wollt doch sicher nicht, das Euer Kind, noch bevor es auf der Welt ist, zum Halbwaisen wird. More und Stokesley fackeln in letzter Zeit nicht lange, wenn sie jemanden verbrennen wollen.«
Schon nach zwei Tagen fühlte John sich kräftig genug, um mit seiner Rundreise zu beginnen. Er verließ die Abtei zu Fuß, da er sich das Geld für ein Pferd sparen wollte. Die erste »Gemeinde« war weniger als fünf Meilen entfernt in Richtung London. Die am weitesten entfernte lag in der Nähe von Southend in Essex. Von dort aus konnte er dann ein Schiff nehmen, das ihn nach Hause zu Kate brachte. So Gott wollte, würde er noch vor Allerheiligen wieder in Antwerpen sein.
Thomas More blickte
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