Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
möchte ich mein Gewissen nicht belasten. Er muss diese Entscheidung ganz allein und aus eigenem Willen treffen.«
»Dann wird er es nicht tun«, sagte William, und die Gewissheit, mit der er das sagte, jagte ihr einen kalten Schauder über den Rücken. In Gegenwart eines solchen Mannes war es leicht, sich von dem Glauben infizieren zu lassen, so wie man sich mit einem Fieber ansteckt. Und vielleicht war genau das mit John geschehen. Auch sie hatte früher dieses Fieber verspürt, als ihr die Welt noch offen gestanden hatte – bevor sie zwei Kinder verloren hatte. Die Fähigkeit zu glauben musste bei ihr wohl schwächer ausgeprägt sein. Offensichtlich erbte man den Glauben nicht von seinen Eltern.
»Ich nehme an, dass wir uns dem Willen Gottes fügen müssen«, sagte Kate, aber sie dachte dabei an ihren Vater, der gestorben war, und an ihren Bruder, der lebte. Sie dachte daran, wie beide, wie William gelitten hatte, der ein Jahrzehnt lang wie ein Tier gejagt worden war. Wenn Gott wollte, dass die Menschen sein Wort auf Englisch lasen, warum ließ er dann jene, die sich dafür einsetzten, so sehr leiden? Aber diese Frage durfte sie William Tyndale nicht stellen.
Bis Weihnachten hatte sie wieder so viel Kraft gesammelt, dass sie ihren Alltag allein meistern konnte. Die Nächte überstand sie auch ohne den Trank aus Mohnsamen. Kurz nach Neujahr schrieb ihr Kapitän Lasser einen Brief. Er war zwei Seiten lang, und sie las ihn begierig. Er schrieb, dass man John gut behandele und man ihn bislang nicht offiziell als Ketzer angeklagt habe, sondern dass er nur unter Verdacht stehe. Er habe sogar die Erlaubnis erhalten, seinen ehemaligen Tutor in Cambridge, Stephen Gardinger, der jetzt Bischof von Winchester sei, in dessen Palast zu besuchen. Da Bischof Gardiner auch sein Tutor während seines kurzen und zugegebenermaßen wenig erfolgversprechenden Aufenthalts in Cambridge gewesen sei, hoffe er, ihn John gegenüber noch gewogener zu machen. Als Bischof von Winchester gehöre er gewiss der geistlichen Jury an, sollte John tatsächlich vor Gericht gestellt werden. Dies sei allerdings mehr als fraglich, da man nicht genügend Beweise habe sammeln können, um den König dazu zu bewegen, dass er den »schwarz berockten Aasfressern« übergeben werde.
John darf im Tower hin und wieder Besuch empfangen, darunter waren auch einige bekannte Bibelmänner. Tatsächlich ist es mir gelungen, einmal mit ihm zu sprechen. Wenn Ihr mein Klerikergewand gesehen hättet, hättet Ihr genauso gelacht wie John, als er mich erkannte. Er sah gesund aus, vielleicht ein wenig blass, weil er nicht an die frische Luft kommt. Er war jedoch in guter Stimmung und sprach mit großer Sehnsucht von seiner liebsten Kate. Ich habe ihm versichert, dass Ihr, als ich Euch das letzte Mal sah, schöner denn je und kugelrund wart und dass Ihr ihn über alle Maßen vermisst und ich Euch überzeugen musste, dass es das Beste für ihn sei, wenn Ihr nicht zu ihm fahrt. Er bat mich, Euch zu sagen, dass Ihr bleiben sollt, wo Ihr seid, sonst würde er keine Ruhe mehr finden.
Kurz danach trafen zwei Briefe von John ein, beide früher verfasst als der des Kapitäns. Einer war an Tyndale und einer an sie gerichtet. John schrieb, dass es ihm gut gehe. Man habe ihm heimlich Feder, Tinte und Papier zukommen lassen, das Schreiben sei jedoch eine äußerst nervenaufreibende Angelegenheit, da er jedes Mal, wenn er den Schlüssel im Schloss höre, sofort alle Utensilien verschwinden lassen müsse. Er schloss seinen Brief an Kate mit der Bitte, sie dürfe nicht glauben, dass er sein Wort gebrochen habe, wenn er es nicht bis Weihnachten nach Hause schaffe, um ihr Kind willkommen zu heißen. Es seien lediglich die Umstände, die dies verhinderten.
Ihr Kummer schlug über ihr zusammen wie eine riesige Woge. Natürlich, er konnte ja nicht wissen, dass sein Sohn tot war. Wie sollte er auch? Und dann kam ihr ein anderer Gedanke: Sollte er … sollte das Schlimmste geschehen … dann musste er es auch nicht mehr erfahren. Wenigstens dieser Kummer bliebe ihm dann erspart. Ansonsten erfuhr er es eben, wenn er nach Hause kam. Das Kind war für ihn niemals so gegenwärtig gewesen wie für sie. Er hatte es schließlich nicht unter seinem Herzen getragen.
»Soll ich ihm von seinem Sohn schreiben?«, fragte sie William und wusste in diesem Moment bereits, was er ihr antworten würde.
»Ihr müsst ihm die Wahrheit sagen. Aber schreibt ihm nur, dass Ihr das Kind verloren habt, und nichts
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