Die englische Rebellin: Historischer Roman (German Edition)
können.«
Ralph hob verwundert die Stimme.
»Wir können ihn doch nicht da zurücklassen!«
»Das tun wir auch nicht. Wir kommen ja zurück.« Longespees knappe Antwort verriet seine Ungeduld. »Ohne Leiter können wir ohnehin nichts ausrichten. Ich schicke einen der Treiber, um ihn herauszuziehen, sobald wir den Hirsch erlegt haben.«
»Aber …«
»Das ist ein Befehl.«
Hugh lauschte dem sich entfernenden Klirren der Geschirre und dem Hufgetrommel, als der Trab in Galopp umschlug. Er konnte nicht glauben, dass sie ihn zurückgelassen hatten. Er unternahm noch einige Versuche, den Hang zu erklimmen, aber er fand nur an totem Gras und Moosklumpen Halt, die sich unter seinem Griff aus dem Erdreich lösten. Endlich gab er auf, nachdem er sich weitere Kratzer und Prellungen zugezogen hatte. Er kauerte sich auf den Boden, schlang seinen Umhang um sich, zog sich den Hut über die Ohren und bereitete sich auf eine längere Wartezeit vor.
Der Himmel verdunkelte sich bereits, als er endlich hörte, dass sich ihm jemand näherte. Er fühlte sich so steif wie ein seit Stunden toter Leichnam, und die Winterkälte war tief in seine Knochen gesickert.
»Hallo!«, rief Ralph laut. Hugh blickte auf und sah den dunklen Schatten seines Bruders am Rand des Grabens. Auch sein Vater war da und eine Gruppe von Jägern. Eine Strickleiter wurde herabgelassen, wobei sich Schlammbrocken und Geröll aus dem Hang lösten. Hughs Finger waren starr vor Kälte, und es kostete ihn große Anstrengung, die Sprossen zu packen und aus dem Graben in die rote Winterdämmerung hinaufzuklettern. Starke Arme ergriffen ihn, als er den Rand erreichte, und zogen ihn heraus.
»Es tut mir leid. Wir wollten den Hirsch nicht verlieren, und Longespee meinte, du würdest sicher aus eigener Kraft herausklettern können.« Ralphs Stimme klang atemlos vor Erschöpfung und Schuldbewusstsein.
»So, meinte er das. Dann werden wir ihn hier hinunterwerfen und sehen, wie schnell er wieder herauskommt!«, knurrte Hugh. »Er hat mich mit voller Absicht hier zurückgelassen!«
»Nein«, widersprach Ralph ängstlich. »Ich bin sicher, er hat dich im Eifer des Gefechts einfach nur vergessen. Er würde so etwas nicht tun.«
»Ach nein?«, zischte Hugh voller Verachtung.
Sein Vater reichte ihm Hebons Zügel.
»Kannst du reiten?« Er deutete auf Hughs zerkratzte, schlammverschmierte Hände. Auch wenn er geschwiegen hatte, hatte das, was Longespee getan hatte, den Earl zutiefst schockiert. Man ließ einen Mann nach einem Sturz nicht stundenlang allein, sondern befreite ihn sofort aus seiner misslichen Lage. Das geboten Pflicht und Verantwortungsgefühl.
»Es wird schon gehen«, nickte Hugh knapp. Unter Schmerzen schwang er sich in den Sattel und trat den Heimweg an.
Als er nass und durchgefroren die Halle von Framlingham betrat, saß Longespee auf einer gepolsterten Bank vor dem Feuer und unterhielt sich mit ihrer Mutter. Er trug ein Gewand aus dicker, weicher Wolle. An seinem Hals schimmerte eine Goldbrosche. Er wirkte warm, entspannt und gesättigt. Ihre Mutter lächelte ihn mit einem anbetenden Gesichtsausdruck an. In Hugh keimten Mordgedanken auf.
»Warum hast du erst jetzt jemanden geschickt?«, fauchte er. »Wie zum Teufel konntest du glauben, ich würde es schaffen, aus eigener Kraft da herauszuklettern?«
Longespee errötete. Er winkte entschuldigend ab und lächelte, als wäre er der Meinung, Hugh wirbele viel Staub wegen nichts auf. »Es tut mir leid, aber ich wusste ja, dass du unverletzt warst.«
»Und einen Hirsch zu jagen war wichtiger als ein Mitglied des Trupps zu bergen, das zudem noch mit dir verwandt ist?«
»Ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut. Komm, setz dich ans Feuer und trink etwas heißen Wein.« Er deutete auf den Krug, der über den Flammen gewärmt wurde. Hugh fing den
bittenden Blick seiner Mutter auf – ein Blick, der vorgab, sie seien noch Kinder, die sich wegen eines Streiches stritten, den einer dem anderen gespielt hatte, und der besagte, dass er den Ölzweig annehmen sollte.
»Lieber nicht«, erwiderte er. »Ich muss mich dringend umziehen, und ich bin im Moment kein guter Gesellschafter. Entschuldigt mich bitte.« Mit einer steifen Verbeugung vor seiner Mutter – Longespee ignorierte er – verließ er die Halle und stieg die Treppe zu seiner Kammer empor. Dort erwartete ihn bereits ein heißes Bad, und über dem Feuer brodelte ein irdener Topf mit Fleischbrühe. Auf einem kleinen Tisch neben der Wanne
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