Die Entdeckung der Landschaft - Einführung in eine neue Wissenschaft
ebenso eine besondere Kombination zwischen Industrieproduktion und Landwirtschaft im Nebenerwerb wie in Gebirgsgegenden: In den Waldhufensiedlungen im Erzgebirge oder im Schwarzwald wurden beispielsweise Uhrenfabriken gegründet, in denen viele Menschen Arbeit fanden. Oder man förderte Heimarbeit (Weberei, Holzverarbeitung). Diese Formen von Industrieproduktion waren davon abhängig, dass die hergestellten Waren gut vertrieben wurden. Nach einer Frühphase des Überlandhandels, in der Hausierer (Uhrenmänner aus dem Schwarzwald, Striezelkinder aus dem Erzgebirge, Tüotten mit Textilien aus Westfalen) von den entlegenen Stätten der Produktion in die Städte gezogen waren, um Waren zu verkaufen, brachte der Transport auf Straßen und Eisenbahnlinien erhebliche Verbesserungen der Absatzmöglichkeiten.
Abb. 14-6 Der Englische Garten in München entstand durch die Umgestaltung eines früheren Hudewaldes.
Gegen die tiefgreifenden Reformen regte sich kaum Protest. Das hatte sicher mehrere Gründe. Viele Reformen wurden autoritär durchgesetzt. Immer mehr Menschen mag aber auch klar geworden sein, dass sie unmittelbar von den Landnutzungsreformen profitierten: In den Industrieländern kam es immer seltener zu Hunger- und Notzeiten. Außerdem stellte man viele Neuentwicklungen so dar, als seien sie Wiederherstellungen älterer Zustände. In Deutschland wurde mit der Aufforstung der Gedanke verbunden, man stelle ehemalige Wälder wieder her, die zur Römerzeit bereits bestanden hatten. Von Wäldern nahm man an, dass sie zur deutschen Identität gehörten; angeblich hatten ja die Wälder den Germanen ihre Unabhängigkeit gerettet. Einige für schön gehaltene alte Hudewälder, in die man nun keine Tiere mehr eintrieb, wurden zu englischen Landschaftsparks umgedeutet; das ist in den Parkanlagen von Wörlitz und Dessau, im Englischen Gartenin München
(Abb. 14–6)
oder im Georgengarten in Hannover gut zu erkennen. In diesen Gärten errichtete man Parkarchitekturen als Nachbauten antiker Vorbilder, zum Teil in Form von Ruinen. Damit «baute» man gewissermaßen arkadische Landschaften nach, die man von Bildern Claude Lorrains und anderer Maler kannte.
Innovationen auf den Dörfern hielt man für Wiederherstellungen eines mittelalterlichen Wohlstandes, der eine Fiktion war. Viele Häuser wurden so gebaut, als stammten sie aus alter Zeit; antike Säulen, Rund- oder Spitzbögen sollten wohl zum Ausdruck bringen, dass etwas, das angeblich schon lange bestand, auch langen Bestand haben sollte. Zu den Bauernhäusern gehörte ein «traditioneller» Bauerngarten. Aber darin wurden zahlreiche Pflanzen gezogen, deren Anbau erst für das 18. oder 19. Jahrhundert belegt ist. So pflanzte man Obstsorten, die erst in dieser Zeit gezüchtet worden waren [151] , legte Kartoffeln oder zog Grüne Bohnen und Tomaten, die ursprünglich aus Amerika stammten. Lehrer oder Pastoren brachten die Idee, einen Hausgarten anzulegen, aus den Städten in die Dörfer. Sie waren während ihrer Ausbildung mit Anfangsgründen des Gartenbaus vertraut gemacht worden. Noch im frühen 20. Jahrhundert zeigten sie Bauern, wie man solche Gärten anlegt, die wir heute für «typische Bauerngärten» halten.
Immer wieder orientierte man sich bei der Errichtung neuer Bauten an Vorbildern, die man für Teile einer Idylle hielt: Viele Landhäuser hatten Villen von Palladio zum Vorbild. Sie wurden zunächst in England, dann in Deutschland und anderswo errichtet. Selbst bei Bauten für die Eisenbahn griff man oft auf antike Vorbilder zurück. Viele Viadukte des 19. Jahrhunderts sehen wie römische Aquädukte aus, Bahnhöfe wie nachgebaute römische Villen
(Abb. 14–7)
. Beim Bau von Fabrikantenvillen, Industrieanlagen, Verwaltungsgebäuden, Kirchen und auch zahlreichen Bauernhäusern hatte man ebenfalls ältere Vorbilder vor Augen: Sie entstanden in neoklassizistischem, neoromanischem oder neogotischem Stil oder in einem Stilgemisch mit Anleihen an zahlreichen Vorbildern. Durch diese stilistischen Rückgriffe versuchte man wohl, Neues möglichst gut mit Altem zu verbinden. Bis heutewird so aber auch der Eindruck erweckt, als habe die reformierte Landschaft mit allen ihren Bauten schon viel längere Zeit bestanden, als dies tatsächlich der Fall war.
Abb. 14-7 Der Bahnhof von Bückeburg sieht wie der Nachbau einer römischen Villa aus.
Persistenz des Systems von Landnutzung und Landschaft des Zeitalters der Reformen
Landschaften stehen heute nicht mehr unter dem
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