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Die Entdeckung der Landschaft - Einführung in eine neue Wissenschaft

Die Entdeckung der Landschaft - Einführung in eine neue Wissenschaft

Titel: Die Entdeckung der Landschaft - Einführung in eine neue Wissenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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jeweils andere System eingebunden waren. Vom Standpunkt der Römer aus galten Germanen als Barbaren oder Wilde; denn sie lebten außerhalb eines Staates oder einer Zivilisation. Sie waren in ein System von Landnutzung eingebunden, in dem sich eine Landschaft herausbildete, die sich von derjenigen der Römer, die in einem Staat lebten, von Grund auf unterschied. Ähnliche Urteile fällten in einem Staat lebende Mitteleuropäer im Mittelalter über Menschen, die im Osten Europas außerhalb von staatlicher Ordnung lebten. Später entwickelten sich Urteile über «Wilde» oder «Eingeborene» in anderen Kontinenten, heute über «indigene Völker», deren System des Zusammenlebens und der Landnutzung sich aus dem Blickwinkel der Zivilisation nur schwer erschließt. Die Bezeichnungen für die Menschen, die unter diesen Systembedingungen lebten, trafen oft nicht zu. Die Landschaften, in denen sie lebten, waren keine Wildnisse, in denen sich Natur ohne menschliche Intervention entwickelte, sondern sie wurden ebenso von Menschen beeinflusst, wenn auch in anderer Weise als innerhalb einer Zivilisation.
    Bei dem Versuch, die Lebensbedingungen von Menschen zuumschreiben, die nicht unter den gleichen Systembedingungen der Landnutzung lebten wie man selbst, kam es zur Entstehung von Mythen, Sagen und Märchen. Viele «Wildnisse» Europas werden seit langer Zeit falsch gedeutet. Landschaften, die sich als Relikte eines überkommenen Systems von Landnutzung erhalten hatten, wurden und werden für «schöne Natur» gehalten und unter Naturschutz gestellt. Bereits Vergil und andere antike Dichter verherrlichten das in der Entwicklung zurückgebliebene Arkadien als Natur, Paradies oder Idylle. Bis heute hält man halboffene Weidelandschaften der gemäßigten Zonen für «Natur»: Heideflächen, Magerrasen und Hudewälder oder Hutweiden. Die Fehleinschätzung dieser Gebiete hatte vor zwei Jahrtausenden die gleichen Gründe wie heute: Man verwechselte weniger intensiv genutztes Land, dessen Systemstruktur man nicht völlig verstand, mit einem Idealzustand von Natur. Zweifellos sind die verherrlichten Landschaften schön, aber Natur oder Wildnisse sind sie nicht. Man wird ihnen auch nicht gerecht, wenn man sie als «Natur» bewahrt. Wenn man sie schützen will – und darauf kann man sich durchaus verständigen –, braucht man eine kulturell begründete Strategie des Schutzes von Landschaft, bei dem vor allem die Art und Weise der Landnutzung oder der Pflege eines Landstückes eine Rolle spielt.
    Mit fehlendem Verständnis für den Charakter von Landnutzungssystemen und Landschaften, die unter anderen als den jeweils vorherrschenden systemischen Bedingungen zustande kamen, hängt wohl zusammen, dass es bis heute nicht einfach ist, einzelne Landnutzungssysteme griffig und eindeutig zu benennen. Menschen, die als Jäger und Sammler ihre Umwelt nutzten, befanden sich genauso außerhalb der Zivilisation wie diejenigen Bauern, die ihre Siedlungen und Wirtschaftsflächen von Zeit zu Zeit verlagerten. Diese Jäger und Bauern könnte man als «unzivilisiert» bezeichnen. Aber es sind auch Traditionen von Bauernkulturen, bei denen Siedlungen und Wirtschaftsflächen verlagert wurden, zu denjenigen erkennbar, die innerhalb eines Staates ortsfest siedelten und die nach den Landreformen ihre Flächen ertragreicher bewirtschafteten. Alle Menschen, die unter diesen dreiSystembedingungen lebten und arbeiteten, waren Bauern. Zivilisation als staatliche Struktur herrschte unter allen Menschen, die in Abhängigkeit von einer Infrastruktur ortsfest siedelten, ganz gleich, ob Landreformen bereits stattgefunden hatten oder nicht: Zivilisation gab es vor dem 18. Jahrhundert ebenso wie in der Zeit danach. Man wurde sich damals neu über Landschaft bewusst, aber auch Landschaft gab es schon vorher.
    Alle Bauern hatten eine Kultur, denn sie bebauten Land, und auch bei Jägern und Sammlern lässt sich Kultur feststellen: Sie hinterließen Kunstwerke, Hinweise darauf, dass sie eine Religion kannten, sie beherrschten die Kultur der Jagd. Also waren selbst sie nicht nur «wild», «unkultiviert» oder «primitiv»; ihre Lebensform schien lediglich aus der Sicht von Menschen, die in einem weiter entwickelten System lebten, weniger weit entwickelt zu sein.
    Verschiedene Systeme von Kultur und Landnutzung konnten zwar lange nebeneinander bestehen, aber letztlich setzte sich das System als allgemeingültig durch, in dessen Rahmen sich Ressourcen besser nutzen und mehr

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