Die Entdeckung der Landschaft - Einführung in eine neue Wissenschaft
Menschen versorgen ließen. In der Konsequenz kam es zu einer Akkulturation: Die bisherige Lebensweise wurde aufgegeben und eine neue übernommen. Allerdings blieben dabei auch Erfahrungen aus früherer Zeit erhalten, in der beide Systeme noch nicht aneinander angeglichen waren. Solche Denkweisen oder Vorstellungen lassen sich als Teile einer
longue durée
von Strukturen, auch von immateriellen Elementen, auffassen.
Im Rahmen eines Akkulturationsprozesses konnte ein komplettes System der Lebensweise, Landnutzung und Beeinflussung von Landschaft auf einmal übernommen werden. Als sich die Lebensweise von Bauern aus Vorderasien nach Europa ausbreitete, wurden Ackerbau und Viehhaltung, Bodenbearbeitung, Sesshaftigkeit, Vorratshaltung, Keramikherstellung usw. zugleich übernommen. Als sich ausgehend vom Nahen Osten staatliche Strukturen am Mittelmeer und dann in anderen Teilen Europas etablierten, verlief die Bildung eines Staatsgebildes mutmaßlich rascher als bei der allmählichen ersten Formung eines Staates anden Flüssen des Orients. Die Ausbreitung staatlicher Strukturen wurde immer wieder auch mit Zwang oder Unterwerfung durchgesetzt, insbesondere durch Einrichtung von abhängigen Kolonien.
Man könnte die Einteilung in verschiedene Systeme von Landnutzung und Landschaftsbeeinflussung verfeinern. Die frühe Landwirtschaft im Nahen Osten lässt sich in vieler Hinsicht von einer Landwirtschaft abgrenzen, die davon abgeleitet in anderen Teilen der Welt betrieben wurde. Wurden neue Rohstoffe verfügbar und nutzbar, veränderten sich wesentliche Komponenten von Landnutzungssystemen. Eine entscheidende Veränderung der Landnutzung und Landschaftsgestaltung mag unter anderem vom Beginn der Nutzung von Eisen und Salz ausgegangen sein. Innerhalb von Staaten, die nacheinander im Nahen Osten, am Mittelmeer, in anderen Teilen Europas und schließlich weiteren Teilen der Welt bestanden, wurden Landnutzung und Landschaftsgestaltung ebenfalls nach unterscheidbaren Kriterien betrieben.
In anderen Kulturkreisen, etwa in Süd- und Mittelamerika oder Ostasien, lief die Abfolge von Formen der Landnutzung ähnlich ab. Stets ging es zunächst um einen Ersatz des Daseins als Jäger und Sammler durch Landwirtschaft, später um die Einführung einer Infrastruktur.
Im Zeitalter des europäischen Kolonialismus wurden Menschen unterworfen, die in sehr verschiedene Systeme von Landnutzung eingebunden waren. Den Eroberern traten Jäger und Sammler, Bauern und auch Menschen gegenüber, die unter den Bedingungen einer staatlichen Infrastruktur lebten. Stets repräsentierten sie aber für die Europäer «das Wilde». In der Folgezeit kam es zu facettenreichen Prozessen der Akkulturation. [154] Als Kolonien unabhängig wurden, blieben Folgen der Akkulturation auch stets im neuen Staat bestehen. Kein Gebiet fiel also in denjenigen Systemzusammenhang zurück, der vor der Kolonialisierung bestanden hatte.
Durch jedes System der Landnutzung wurde die Entwicklung von Landschaft in eine andere Richtung gelenkt. Und insgesamt wurde dadurch im Verlauf langer Zeit das Bild von Landschaft sogeprägt, wie wir es heute vor uns sehen. Das Aufkommen eines neuen Systems von Kultur und Landnutzung sowie Beginn und Ende eines Akkulturationsprozesses lassen sich nicht mit Jahreszahlen umschreiben. Keines der dargestellten Systeme von Kultur und Landnutzung dauerte von einem bestimmten Anfangszeitpunkt bis zu einem bestimmten Endzeitpunkt, sondern sie bildeten sich allmählich heraus. Zusammenhänge eines aufgegebenen Systems wurden nur allmählich aufgelöst, nicht überall zur gleichen Zeit. Für den Übergang von einem System in ein anderes war stets entscheidend, dass sie lange Zeit nebeneinander Bestand hatten.
Einzelne Komponenten von Landschaft glichen sich unter unterschiedlichen Systemeinflüssen nicht genau. Im Wald kam es, als er sich zu Zeiten von Jägern und Sammlern weitgehend natürlich entwickelte, nur selten und punktuell zu Sekundärsukzessionen. Er veränderte sich daher nur sehr langsam. Die Entwicklung von Wäldern lief unter dem Einfluss von nicht dauerhaft ortsfest siedelnden Bauern dynamischer ab: Es kam öfter und auf größeren Flächen zu Sekundärsukzessionen, und in deren Verlauf konnten sich neue Baumarten rascher ausbreiten. Der Wald, der unter den Bedingungen dieses Landnutzungssystems entstand, war außerdem – ebenso wie der Wald in der Umgebung von ortsfesten Siedlungen – durch Waldweide geprägt. Später wurde Wald durch
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