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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Londoner Zifferblätter weiß. Viele Uhren
hatten Sekundenzeiger wie vorher nur die Schiffschronometer. Uhren und Menschen
waren genauer geworden. John hätte das gutgeheißen, wenn daraus mehr Ruhe und
Gemessenheit entstanden wäre. Statt dessen beobachtete er überall nur
Zeitknappheit und Eile.
    Oder wollte nur für ihn, John, niemand mehr seine Zeit opfern? Nein,
es mußte eine allgemeine Mode sein. Der Griff zur Uhrkette war häufiger
geworden als der zum Hut. Man hörte kaum Flüche, der Ausruf: »Keine Zeit!« war
an ihre Stelle getreten.
    John war etwas befremdet. Hinzu kam, daß er selbst viel zuviel Zeit
hatte: ein neues Kommando war nicht in Sicht.
    Mit Spott und Tadel hatte man ihn empfangen. Dr. Brown gab sich
einsilbig, Sir John Barrow polternd ungnädig, Davies Gilbert, neuer
Vorsitzender der Royal Society nach Sir Josephs Tod, eisig-freundlich. Nur
Peter Mark Roget suchte hin und wieder John in seiner Wohnung auf, um über
Optik, Elektrizität, Langsamkeit und neue Konstruktionsideen für den
Bilderwälzer zu reden. Das Thema Magnetismus sparte er aus, vermutlich wegen
des magnetischen Nordpols. So viel Taktgefühl war kaum auszuhalten. Die meiste
Zeit saß John nur grübelnd hinter seinem Fenster in der Frith Street Nr. 60 in
Soho, dachte über den möglichen Verlauf der Nordwestpassage nach und darüber,
wie er alles wieder gutmachen und sein Leben mit der nötigen Folgerichtigkeit
fortsetzen könnte. Im Haus gegenüber putzte eine alte Frau mehrmals am Tag ihr
Fenster, manchmal sogar nachts. Es war, als wolle sie vor ihrem Tod eine
einzige Sache noch fertigmachen, an der niemand etwas aussetzen konnte.
    Oft half es, hinauszugehen auf die Straße, an Deck gehen,
nannte es John. Er wanderte durch London und steckte sich Ziele, um für kurze
Zeit Schnee, Eis, Hunger und tote Voyageurs zu vergessen. Die neuen Häuser sah
er sich an: weniger Fenster hatten sie jetzt, wegen der Fenstersteuer. Alle
eisernen Brücken studierte er: die Kutschen machten Lärm, wenn sie darüber
hinfuhren, und das störte. Dann nahm er sich die Frauenkleider vor. Die Taille
saß wieder weiter unten in der Mitte der Körperlänge und schien fester
geschnürt. Röcke und Ärmel blähten sich, als wollten die Frauen in Zukunft mehr
Platz beanspruchen als je zuvor.
    Auch nachts war John unterwegs, denn er konnte oft schlecht einschlafen.
Mehrere Male bekam er es mit rabiaten Weibern zu tun, die sich von ihm
flaschenweise Genever spendieren lassen wollten. Räuber wagten sich nicht an
ihn heran. Sein Körper war wieder so schwer und stark wie vor der Reise.
    An einem Sonntag in der Frühe beobachtete er im Hyde Park zwei
Herren, die sich mit Pistolen duellierten. Sie schossen, vielleicht nicht
einmal absichtlich, miserabel: mit einer kleinen Verletzung ließen sie es gut
sein. Am Nachmittag sah er zu, wie drei betrunkene Ruderer mit den Strömungen
unter der London Bridge nicht fertig wurden. Das Boot schlug gegen den Pfeiler
und zerbrach, alle ertranken. Plötzlich hatten da die Leute Zeit zum Schauen!
Die Zeitknappheit war nichts als eine Mode, hier der Beweis.
    In einer Bude, gegen die Gebühr von einem Penny, konnte er im Stehen
die Zeitungen lesen: Aufstand der Griechen gegen die Türken. China hatte den
Opiumhandel verboten. Das erste Dampfschiff in der Kriegsmarine, da mußte er
lachen. Dem brauchte man nur eines seiner Schaufelräder zusammenzuschießen, und
es fuhr nur noch im Kreise und bot das beste Ziel. Ferner die Parlamentsreform!
Viele Worte dafür und viele dagegen. Immer ging es um Eile und Zeit: schnell
die Reform durchsetzen, bevor es zu spät sei! Schnell die Reform ersticken, bevor
es zu spät sei!
    Zweimal ging John zum Haus der Griffins. Aber die schöne Jane war,
so hörte er, die meiste Zeit des Jahres auf Bildungsreisen irgendwo in Europa.
    Was tun? Wo ging es weiter?
    Er setzte sich auch in die Kaffeehäuser. Dort bekam man jederzeit
Tinte, Feder und Papier, wenn einem etwas Wichtiges einfiel. Zwar fiel John
nichts ein, aber er bestellte jedesmal Schreibzeug, starrte auf den weißen
Bogen und dachte: Wenn ich etwas Wichtiges habe, schreibe ich es auf. Also geht
es vielleicht auch umgekehrt: wenn ich etwas zum Schreiben habe, fällt mir das
Wichtige ein. Und so geschah es auch – plötzlich war die Idee da. Sie erschien
John tollkühn, aber das sprach eher für als

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