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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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wie
gut es war.
    Es mußte über dreihundert Seiten haben, damit alle, die es besaßen,
sich damit sehen lassen konnten.
    Die alte Frau starb. Ihr Fenster war noch vier Tage lang
deutlich sauberer als alle anderen. John war traurig, denn er hätte ihr gern
das fertige Buch geschenkt. Mißmutig saß er da und dachte plötzlich, daß der
Bericht die Leser langweilen könnte. Er beschloß, Eleanor zu besuchen, die
Dichterin. Er wollte sie fragen, wie man es schaffte, daß ein Buch niemanden
langweilte.
    Â»Wieviel haben Sie denn schon geschrieben?« fragte sie.
»Zweiundachtzigtausendfünfhundert Wörter«, antwortete er. Da lachte und hüpfte
sie, und John faßte sie instinktiv um die Hüfte und hielt sie fest. Das hätte
er nicht tun sollen, denn sie verpflichtete ihn augenblicklich, an ihrem
literarischen Sonntagszirkel teilzunehmen. Er versuchte alles, um das
abzuwenden, verwies auf seine Arbeit, schützte sogar religiöse Gründe vor, die
ihm eine sonntägliche Literaturveranstaltung streng verböten – es half nichts,
sie glaubte ihm kein Wort.
    Eleanors Zirkel hieß Attic Chest. Es ging bei ihr sehr griechisch
zu. Die Stoffbespannung der Wand enthielt allerlei Tempelreste, Amphitheater
und Ölbäume. Mäandermuster zwirbelten sich um jedes Polster, und das
Schachbrett ruhte auf einer korinthischen Säule. Auch Marmorköpfe mit
Lorbeerkränzen fehlten nicht. Mehrere Mitglieder der Versammlung wollten
demnächst sterben, am liebsten in Hellas, notfalls auch in Rom. John verstand
das sofort, weil es mehrmals wiederholt wurde.
    Eleanor las ein Gedicht vor, dann ein gewisser Elliott und
schließlich ein kahlköpfiger Mann namens Sharp, der vorher und nachher
Erklärungen abgab. Man nannte ihn wohl deshalb auch Conversation-Sharp. Nach
dem Lesen sagte irgend jemand etwas Ergriffenes, und alle Schweigenden schienen
dem zuzustimmen oder zumindest erfolglos um Einwände zu ringen. John tat es
ihnen nach und fuhr gut damit. In den Gedichten ging es ebenso wie in der
Unterhaltung um Gefühle und Elemente. Von den elektrischen Grundlagen der Sympathie
war die Rede und von Feuerteilchen, die sich in jeder Materie befänden – sie
gäben allen Dingen ihr spezifisches Temperament. Aus Breslau stammte die These,
ein Diamant sei ein zu sich selbst gekommener Kieselstein. Ein Sonntag reichte
nicht aus, um solche Ahnungen und Erkenntnisse gewissenhaft zu bedenken, vom
Besprechen gar nicht zu reden. John war sehr froh, daß man ihn nichts fragte,
er schwieg und beobachtete die anderen mit wachsender Verwunderung, denn er
hatte noch nicht herausbekommen, wodurch diese große Lebhaftigkeit zustandekam.
    Schließlich hatte er es: es mußte ein Spiel sein! Sie spielten alle
das gleiche Spiel, jeder auf andere Weise.
    Da gab es Menschen, die laut und begeistert von sich selbst sprachen
wie Eleanor. Das gab ihnen einen Schwung, der es anderen schwer machte, sie zu
unterbrechen. Andere sagten am Ende jedes Satzes »und«. Aber sie waren machtlos
gegenüber denjenigen, die es verstanden, in die hauchdünne Pause vor dem »und«
einzudringen und Bemerkungen zu machen.
    Die Hauptspielregel hieß offensichtlich: Das Wort ergreifen und so
lang wie möglich behalten.
    Mr. Elliott legte beim Zuhören den Kopf so schief, daß er einem
Hart-am-Wind-Segler bei kräftiger Brise glich. Nach einiger Zeit begann er
zustimmend zu nicken und verstärkte das immer mehr, bis der andere verstummte,
um seine Zustimmung auch in Worten zu erhalten. Was dann kam, war aber Kritik.
Oder Miss Tuttle. Sie begann das Zuhören mit hoch erhobenem Haupt, senkte dann
nach und nach das Kinn, bis es schließlich auf ihrem Spitzenkragen anlangte. Spätestens
dann fing sie unweigerlich zu sprechen an, ob der andere nun fertig war oder
nicht. So befand sich jeder Sprecher im Wettlauf mit Miss Tuttles Kinn, und
nervöse Leute bemühten sich angstvoll um Kürze.
    Da John nicht zu Wort kommen wollte, stand er außerhalb des Spiels
und konnte es mit Gelassenheit betrachten. Aber bald war es damit aus, denn Mr.
Sharp hatte ihn nach dem Verlauf seiner Reise gefragt – schon zum zweiten Mal.
Andere machten John darauf aufmerksam. Sofort sagte niemand mehr etwas, alle warteten
auf Johns Worte. Nun mußte er in das hallende Schweigen hineinstolpern mit
seinen armen, wiederholungsreichen Sätzen. Je mehr er sich schämte, desto
wohlwollender

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