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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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blickten ihn alle an. Sie hatten natürlich von seinem Fiasko in
der Arktis gehört, wollten ihn das aber nicht merken lassen und taten ganz
neugierig und erstaunt. Er machte es so kurz wie möglich. Zum Glück war auch
bald wieder von etwas anderem die Rede: vom Augenblick und von der Fähigkeit
der Kunst, ihn einzufrieren – es ging um griechische Vasenbilder. Das
interessierte John, denn er konnte sich vorstellen, was daraus werden würde:
aus mehreren gefrorenen Augenblicken ließ sich Bewegung abbilden! Das wollte er
den Dichtern sagen, aber jetzt kam er nicht mehr zu Wort. Er holte tief Luft für
seine guten Sätze, aber niemand achtete darauf. Auch wenn er sich den Anschein
gab, als ob er vor Wissen gleich platzen würde, hatte niemand Mitleid. Daher
gab er das wieder auf und sah sich nur Eleanors schöne hellbraune Augen an, und
wie sich in ihrem Nacken die Haare sanft kräuselten, das genügte ihm. Auch er
konnte Augenblicke festhalten, vielleicht besser als die, die darüber sprachen.
    Als die letzten Gäste gegangen waren, blieb John noch etwas da. »Sie
finden dich interessant, weil du ein Schiff führen kannst«, meinte Eleanor,
»außerdem finden alle Künstler an einem Menschen, der von Rechts wegen tot sein
müßte, großes Gefallen. Allein schon eine Narbe in der Mitte der Stirn …«
»Kennst du den Maler William Westall?« fragte John.
    Â»Ich kenne ein Bild von ihm«, antwortete Eleanor, »›Der Monsun zieht
herauf‹. Er ist durchaus begabt.«
    Plötzlich wußte John, daß sie genauso große Schwierigkeiten hatte
wie er, das richtige Wort zu finden. Bei ihr wirkte sich das nur anders aus.
»Begabt« – was für ein ödes Wort für einen Mann oder ein Bild! Sie fanden alle
die richtigen Worte nicht, aber sie waren eben schnell und gingen mit diesem
Mangel anders um als er.
    Er verabschiedete sich, ging wieder in die Frith Street und schrieb
weiter Tag und Nacht. Um durchzuhalten, hatte er seinem Willen einen neuen
Brocken hingeworfen: den Schlußsatz. Er hatte entschieden, wie das Buch aufzuhören
habe.
    Â»Und so endete unsere lange, anstrengende und unglückliche Reise in
Nordamerika, auf der wir zu Wasser und zu Lande 5550 Meilen zurückgelegt
hatten« – so und nicht anders mußte er lauten!
    Wenn John müde wurde, hieß er seinen Willen prüfen, ob der Satz
schon geschrieben werden konnte. Der einfältige Diener prüfte und konnte nur
antworten: Noch nicht ganz!
    Der Rest des Jahres 1823 brachte drei Ereignisse, mit denen
niemand gerechnet hatte.
    Im August heirateten John Franklin und Eleanor Porden.
    Im September brachte der Verleger Murray Johns Reisebericht heraus.
Es war ein teures Buch, zehn Guineen das Exemplar. Schon drei Wochen später kam
Murray mit dem Drucken nicht mehr nach, weil alle Welt es haben wollte. Auf
einen Schlag galt John Franklin als tapferer Forscher und großer Mensch. Er
hatte gar nicht erst versucht, sich zu rechtfertigen, sondern das Unglück genau
geschildert, nichts weggelassen und auch seine eigenen Hilflosigkeiten
zugegeben. So etwas mochten die Engländer. Sie kamen überein, daß dies
Hilflosigkeiten seien, die man nur zusammen mit der Menschlichkeit ablegen
könne.
    Sie wollten Franklin so siegen oder untergehen sehen, wie er war.
Kleinlich und kurzsichtig schien ihnen jeder Zweifel an seinem Wissen und
Können. Er wurde geehrt von Admiralen, Wissenschaftlern und Lordschaften, und
jedermann war binnen weniger Tage schon jahrelang mit ihm bekannt. Noch im
selben Monat wurde er in die Royal Society aufgenommen, und die Admiralität
beeilte sich, ihn endlich auch formell zum Kapitän zu ernennen.
    Das dritte Ereignis: Peter Mark Roget kam zu Besuch, um ihm zu
gratulieren. Und dabei teilte er Franklin mit, er sei gar nicht langsam. Er sei
nie langsam gewesen, sondern ein ganz normaler Mensch!
    So war das. Plötzlich war er normal und zugleich der Größte und der
Beste. Jetzt fürchtete er wie Richardson, daß der Rest des Lebens rasch an ihm
vorüberziehen würde.
    Jeder Tag brachte neue Gratulationen, und was schrieben sie nicht
alles in den Zeitungen! Jeder studierte an ihm herum, wie er wohl sei und wie
er in Wirklichkeit sei.
    Â»Ich bin nur für lange Strecken geeignet«, sagte er zu Eleanor. »Bei
einem plötzlichen Durcheinander wie diesem muß ich mir Zeit nehmen.« Er zog
sich

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