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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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gegen sie, zumal das Vorhaben
Ähnlichkeiten mit einer langen Reise hatte. Die Idee hieß: Schreiben. John nahm
sich vor, ein Buch zu seiner Rechtfertigung zu schreiben, ein dickes Buch, mit
dem er alle Zweifler bekehren und von seinem System überzeugen wollte. Und da
er wußte, was der menschliche Wille für ein loser Vogel war, legte er sich
gleich schriftlich fest. Er schrieb auf den weißen Bogen: » BERICHT ÜBER EINE REISE ZU DEN KÜSTEN DES POLARMEERES – nicht unter 100.000 Wörtern!« Das war die Rettung des Unternehmens in letzter
Minute, denn der Kopf hatte schon angefangen, Einwände zu zischeln. Zum
Beispiel: John Franklin, wenn du irgend etwas nicht kannst, dann ist es
Bücherschreiben!
    Die ersten Worte waren sicher die schwersten.
    Â»Am Sonntag, dem 23. Mai 1819, gingen unsere Leute vollzählig …«
»Unsere Leute«? Sie waren es doch selbst, die an Bord gegangen waren, und nicht
irgendwelche anderen, die zu ihnen gehörten. Er schrieb also besser
»Reisegesellschaft«, nein, »die Männer unter meinem Kommando«. Das war aber
auch verkehrt, denn es schloß ihn selbst nicht mit ein – er hatte ja zur
gleichen Zeit auf der Prince of Wales Quartier
genommen. »Ich und die Männer« gefiel ihm ebensowenig wie »die Männer und ich«.
»Wir bestiegen vollzählig« war ungenau, »die ganze Reisegruppe unter Einschluß
meiner Person« schreckte vom Lesen ab. »Am Sonntag, dem 23. Mai 1819, schiffte
sich unsere von mir angeführte …« – ja, was denn nun?
    Der Kopf sagte: Wirf es in die Ecke, John Franklin, du verlierst
deinen Verstand darüber! Der Wille quakte monoton: Weitermachen, und John
selbst sprach:
    Â»Schon fast ein Dutzend Wörter stehen so gut wie fest!«
    Die alte Frau putzte ihr Fenster, und John schrieb sein
Buch, Tag für Tag. Jetzt hatte er schon über 50.000 Wörter und war beim ersten
Treffen mit Akaitcho und den Kupferminenindianern. Schreiben war mühselig, aber
wie eine Schiffsreise: es erzeugte die Kräfte und Hoffnungen, die es
erforderte, selbst, und sie reichten auch noch für das sonstige Leben. Wer ein
Buch zu schreiben hatte, konnte nicht auf Dauer verzweifelt sein. Und alle
Verzweiflungen des Formulierens waren durch Fleiß zu besiegen. Anfangs hatte
John besonders mit seinen Wiederholungen zu kämpfen. Sein ganzes Leben lang
hatte er es abgelehnt, für eine einzige Sache mehrere Wörter zu gebrauchen.
Daher hatte er zwischen gebräuchlichen und überflüssigen Wörtern unterschieden
und seinen Vorrat so gering wie möglich gehalten. Jetzt aber kam es vor, daß
ein Wort auf einer Seite zehnmal vorkam, etwa das Verbum »vorkommen« bei der
Aufzählung der arktischen Pflanzen. Sogar nachts schreckte John hoch und suchte
nach Wiederholungen wie nach einem hartnäckigen, schlafraubenden Ungeziefer.
    Noch etwas hatte ihn anfangs gestört: je eifriger er die wirklichen
Erlebnisse beschrieb, desto mehr schienen sie zurückzuweichen. Was er aus
Erfahrung kannte, verwandelte sich durch Formulierung in etwas, was auch er
selbst nur noch sah wie ein Bild. Die Vertrautheit war weg, dafür ein Reiz der
Fremdheit wieder da. Irgendwann hatte John angefangen, darin eher einen Vorzug
als einen Nachteil zu sehen, obwohl es, gemessen an dem Ziel, Vertrautes zu
beschreiben, eigentlich eine Enttäuschung war.
    Â»Der Häuptling kam den Hügel herauf mit gemessenem und würdigem
Gang, er blickte weder nach rechts noch nach links« – John ließ die Stelle so
stehen, obwohl er wußte, daß damit wenig gesagt war über seine damaligen
Gefühle bei diesem Anblick, über die unklare, bange Situation und über die
seltsame Hoffnung, die der Häuptling ihm vom ersten Augenblick an eingeflößt
hatte. Trotzdem war es ein brauchbarer Satz, weil jedermann seine eigenen Gefühle
in ihn hineinstecken konnte oder sogar mußte.
    So ergab sich aus den Enttäuschungen des Schreibens schließlich
etwas Gutes: eine neue Arbeit, auf die John sich verstand, weil er in ihr das
Mögliche wollte und das Unmögliche wegließ. Schon etwa um das fünfzehntausendste
Wort herum waren seine Ziele erreichbar geworden:
    Das Buch mußte, wenn es seinen Autor rechtfertigen sollte, gut
geschrieben sein. Das war eine Zeitfrage, weiter nichts.
    Es mußte einfach sein, damit möglichst viele Leute begriffen,

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