Die Entdeckung der Langsamkeit
Menschen selber sehen.«
»Das verstehe ich nicht«, antwortete Roget. »Ist das nicht ein etwas
bombastischer Einwand gegen eine harmlose Illusionsmaschine zur Unterhaltung?
Ich würde Ihnen recht geben, wenn das direkte eigene Schauen durch einen
solchen Apparat vollkommen ersetzt würde. Aber das wird niemals möglich sein.«
Franklin stand am Fenster und tat sich mit der Antwort schwer. Er
zwinkerte, murmelte, schüttelte den Kopf und setzte mehrere Male zum Sprechen
an, um dann doch lieber noch einmal zu überlegen. Ein Glück, daà Roget soviel
Takt hatte.
»Wie lang etwas dauert und wie plötzlich es anders sein kann«, sagte
Franklin, »steht nicht fest, es hängt vielmehr von jedem einzelnen ab. Ich
hatte genug Mühe damit, das zu akzeptieren: meine eigene Geschwindigkeit, und
die Art, wie sich die Welt für mich bewegt. Schon eine einzige Illusion kann
gefährlich sein. Zum Beispiel â«
»Ja, ein Beispiel!« rief Roget.
»â wie ein Mensch angegriffen wird und kämpft. Wie schnell ein Säbel
ihn trifft, und ob er überhaupt eine Chance hat durch Blick und Bewegung!
Darüber darf es keine optische Behauptung geben, die wie eine Wahrheit aussieht.
Wenn mein Augenmaà für Bewegungen unrichtig ist, dann ist es auch das AugenmaÃ
für mein Selbst, für alles.«
Jetzt war es Roget, der das Thema wechselte. Diese Einwände und
Betrachtungen waren ihm zu kraus, und sie wunderten ihn vor allem bei John
Franklin, der sonst kein Freund von Ãbertreibungen war.
Vater Franklin lag schwerkrank und sprach vom Sterben. Er
nahm aber noch auf, daà aus seinem Sohn jetzt etwas geworden war. »Wie ich
immer gesagt habe«, flüsterte er, »intelligent ist, wenn manâs zu was bringt.
Aber unwichtig ist beides. Wir beginnen als reiche Leute und enden als
Bettler.«
Aus London kam Eleanor an. Von weiten Kleidern eingehüllt stieg sie
aus der Kutsche. Krank und blaà sah sie aus. Franklin fuhr mit ihr gleich
weiter nach Old Bolingbroke zum Vater.
»Schade, ich kann deine Frau nicht mehr sehen«, sagte er.
»Hauptsache, sie ist gesund!«
John war in sie verliebt, und da das seine Geduld noch vergröÃerte,
hatte er Eleanors Herz für einige Zeit gewonnen. Sie hatte von seiner
Zärtlichkeit geschwärmt. Er hatte ihr zugehört und festgestellt, daà er ihre
Reden tagelang aushalten konnte, wenn er dabei unverwandt ihr Gesicht und ihre
Bewegungen betrachtete. Dann das neue Thema: Kinder. Sie wollte viele Kinder
gebären, das fand sie wunderbar archaisch, und den hilflosen Zustand, aus dem
jedes neue Leben entstand, so schöpferisch und »irgendwie religiös«. Franklin
sah das einfacher, aber Kinder wollte er auch. Die Hochzeit war etwas mühevoll
gewesen. Franklin hatte zu lernen versucht, wie man eine Quadrille tanzte.
Alles lernte er gern auswendig, nur nicht Tanzschritte und Verwandtschaftsgrade â beides war aber für eine Hochzeit unvermeidlich. Und was dann gespielt wurde,
waren fast nur Wiener Walzer, für ihn ein unerreichbares Land. Aus Liebe
versuchte er es trotzdem.
Seit Franklins allgemeine Beliebtheit so gewachsen war, begann
Eleanors Zuneigung abzukühlen. Sie hatte ein mehrbändiges, etwas langweiliges
Heldenpoem über Richard Löwenherz veröffentlicht, das sich nur mäÃig verkaufte,
obwohl die Buchhändler stets dazusagten, es handle sich um »die Frau des
Mannes, der seine Stiefel aë. Das alles war auf die Dauer nicht gut für die
Liebe einer Dichterin. Eleanor hatte zu kränkeln und zu mäkeln begonnen, hüpfte
nicht mehr, lachte nicht.
Nun waren sie aber nicht in London! Franklin hoffte, sie hier für
immer zu gewinnen, für sich, für dieses ruhige Land und für die verrückten
Leute von Spilsby und Horncastle. Er wünschte sich, daà sie mit ihm hier in Old
Bolingbroke wohnte und daà all die vielen Kinder hier aufwüchsen.
Aber es kam anders. Eleanor fand Lincolnshire zu provinziell, den
Dialekt zu breit, die Landschaft einmal zu flach, ein andermal zu bucklig und
das Klima schädlich. Nur den alten Franklin mochte sie: »Was für ein
niedlicher, gelungener alter Mann!« Wohnen wollte sie hier auf keinen Fall. Sie
hustete, bis Franklin ihr zustimmte. Irgendwann stritten sie sich über die
Liebe. Als Franklin zugab, daà ihn vielleicht das Entdecken mehr interessierte
als die Liebe, und in
Weitere Kostenlose Bücher