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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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er weder die Liebe noch die
Frauen je verstehen würde. Die Frauen wollten in der Welt etwas anderes, das
konnte man nur respektieren.
    Wenige Tage, nachdem John Franklin in Liverpool zusammen mit seinen
Reisegefährten das Schiff bestiegen hatte, starb Eleanor. Er erfuhr davon
Monate später in Kanada, nachdem er der Toten noch einige tröstende und
aufmunternde Briefe geschrieben hatte. Überrascht war er von der traurigen
Nachricht kaum.
    Â»Sie starb für die Sache der arktischen Entdeckungen«, stand in der
Zeitung. »Freilich, sie starb«, kommentierte Elliott, »aber gelebt hat sie für
die Literatur!« Darüber ärgerte sich Mr. Sharp. »Sie hat Größe bewiesen. Ob man
sich für die Arktis, die Freiheit der Griechen oder für die Literatur opfert,
ist unerheblich!« Miss Tuttle konnte nicht länger zuhören: »Sie hat ihn
geliebt, allein darum geht es!« Sie befanden sich mitten in einem Streit, bei
dem einer dem anderen erklärte, worum es ging. Eleanor fehlte ihnen, die frühere,
die lachende Eleanor, die jeden Streit kurzerhand zerstreut hatte, indem sie
laut und begeistert von sich selbst erzählte. Ach, wie schnell wurde aus allem
Vergangenheit.
    Die zweite Landreise, 1825 bis 1827, war so leicht und
glücklich wie ein Kindertraum in den Schulferien.
    Jetzt konnten sie alles und lernten noch mehr. Gute Boote hatte
Franklin bauen lassen für Flußfahrt und Küstenforschung, der Proviant war
reichlich, die Verbindungen zu den Pelzhandelsposten niemals unterbrochen. Nur
noch von feindseligen Eskimos konnte Gefahr drohen. Aber das war das größte
Glück: sie trafen nur auf Stämme, die ihnen das erwiderten, was sie mitbrachten:
Furchtlosigkeit und Wohlwollen. Franklin schrieb auf und lernte, was er nur
immer zu sehen und zu hören bekam, denn eines war sicher: die Eskimos konnten
hier leben, und wenn man so lebte wie sie, konnte man es auch. Augustus war
wieder dabei und übersetzte ihm alles, das Wichtige und das scheinbar
Unwichtige. Franklin machte jetzt aus seiner Art des Sehens eine neue Art des
Fragens. Er hatte herausgefunden, daß es nicht sinnvoll war, »Führungsfragen«
zu stellen, die mit ja oder nein beantwortet werden mußten. Die Eskimos
beantworteten solche Fragen aus vertrackter, irreführender Höflichkeit stets
mit ja. Franklins wichtigstes Wort wurde daher das Wie.
    Sein Notizbuch füllte sich: »Erneinek ist die Harpune mit der
Seehundsblase, Angovak die große Lanze, Kapot die kleine, Nuguit der Wurfpfeil
für Vögel.« Jedes Gerät hatte seinen Sinn, und wenn man damit umgehen wollte,
war noch mehr zu lernen: die Konzentration, ohne die man in dieser Landschaft
weder etwas sah noch erjagte. Und nichts erjagen hieß sterben.
    Ein Glück war auch, daß Back endlich verstand, was wichtig war.
Vielleicht war er erwachsen geworden, vielleicht hatte er einfach begriffen,
wie Entdeckung und langsames Beobachten zusammengehörten, und noch mehr: »Wenn
wir den Eskimos Intelligenz und Gewehre voraushaben, dann besteht die
Intelligenz darin, ohne Gewehre auszukommen« – bitte sehr, ein Satz von George
Back, Leutnant der Kriegsmarine!
    Die Kleidung der Eskimos: Unterhosen aus Federbälgen von
Krabbentauchern, Hosen aus Fuchs- oder Bärenfell, Strümpfe aus Hasenfell,
Betten aus Moschusochsenfell – denen erfror gar nichts!
    Obwohl sie ihre Boote mitgebracht hatten, lernten die Weißen, wie
man gute Boote machen konnte aus gespaltener Walroßhaut und Knochen. Sie
merkten sich auch, wie man Felle und Fleischvorräte zu einem Schlitten
zusammenfrieren lassen konnte. Das sparte Gewicht und machte es den Hunden
leichter. Mit Holzmessern schnitten sie Ziegel aus dem gefrorenen Schnee und
bauten Eishütten, die die Wärme besser hielten als jedes Armeezelt. Vieles von
dem, was Europäer auf ihren Reisen mitschleppten, erschien ihnen bald nur als
ein existenzbedrohender Ballast.
    Irgendwann schrieb Franklin ins Tagebuch: »Wir können eigentlich
nicht glücklicher sein.«
    Das Lernen vermehrte sich in geometrischer Progression, und es gab
einen Übermut des Schauens und Begreifens, der wie ein Rausch wirkte. Als Back
zum ersten Mal nach stundenlangem Warten einen Seehund harpuniert hatte, der
für eine halbe Sekunde die Nase von unten durchs Eisloch gesteckt hatte, da
tanzte er vor Freude auf dem Eis herum, glitt aus, landete auf dem Rücken

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