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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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machte auf eigene Faust den Versuch, in
ausländische Dienste zu treten, um mit einer Arktisexpedition beauftragt zu
werden – Wissenschaft war international, nichts sprach dagegen. Der Erfolg
blieb aus. In Paris hatte er Unterhaltungen in französischer Sprache
durchzustehen und sogar eine Rede zu halten, weil man ihm die Goldmedaille der
Geographischen Gesellschaft zuerkannte. Mit Baron Rothschild frühstückte er,
mit Louis Philippe von Orléans aß er zu Abend. Viel Interesse an seiner Person,
wenig an der weiteren Erforschung der Arktis. Mildes Lächeln über seine Erfahrungen
mit den Eskimos. Die härteste Arbeit war der Tee bei der Madame la Dauphine,
deren erlesene Kekse er sofort gegen tripes de roche eingetauscht hätte, wenn er dafür keine ihrer Plauderfragen hätte beantworten
müssen.
    Jane spornte ihn an. »Zu langsam? Jetzt nicht mehr! Sieh dich doch
um: du hast genau die Geschwindigkeit, die alle bedeutenden Menschen annehmen,
wenn sie sich unter weniger bedeutenden bewegen! Auch der König, auch
Wellington oder Peel lassen fast nach jedem Wort eine Pause eintreten. Und wenn
du das eine oder andere nicht verstanden hast und deshalb ignorierst, so
verstärkt das nur den majestätischen Eindruck.« Trotzdem – Franklin liebte
öffentliche Auftritte nicht. Er war froh, als er in Kongreßpolen einem jungen
Geographen begegnete, Dr. Keglewicz, der nichts werden wollte als Entdecker und
daher wußte, was Entdecken bedeutete. Er war wortkarg und unwirsch, dabei aber
wißbegierig und ehrgeizig zum Zerspringen. Trotz seiner Magerkeit erinnerte er
an den mächtigen, unerbittlichen Babbage. John konnte mit ihm stundenlang
reden, ohne daß von Menschheit, Heldentum oder Charakter die Rede war, von
Erziehung ganz zu schweigen. Das war selten geworden. In St. Petersburg empfing
ihn die Zarin und fragte ihn, was in seinen Büchern stehe. Dabei gab es die
bereits auf russisch. In Oxford machte man ihn zum Ehrendoktor der Rechte, in
London schlug ihn der König zum Ritter und fügte seinem Namen einen Henkel an:
»Sir« John Franklin.
    Jetzt war er der Größte, der Beste und nicht mehr der Jüngste.
Vielleicht ehrte man ihn nur, um ihn loszuwerden? Auf hundert Höflichkeiten kam
nur ein einziges ernsthaftes Angebot. Ein Gin-Fabrikant namens Felix Booth war
bereit, für die Nordwestpassage ein Schiff zu kaufen und auszurüsten, sofern
Sir John nur die Güte haben möge, dieses hochherzige Engagement in seinem
Reisebericht hervorzuheben.
    Endlich ein Angebot von ganz oben! Sir John ließ den Brief
traurig sinken: er sollte als Kapitän eines Kriegsschiffs nach Ostasien fahren
und die Chinesen bedrohen, damit sie wieder Respekt vor der britischen Krone
bekämen. Wenn aber Drohungen nicht sofort geglaubt werden, dachte John, müssen
sie wahr gemacht werden. Er bat höflich darum, die Aufgabe ablehnen zu dürfen.
Als Kampfkommandant sei er nicht besonders geeignet. Außerdem wolle er gerade
heiraten.
    Die Freunde sagten: »Jetzt ist es mit seiner Karriere zu Ende. Wer
gegen Krieg ist, kriegt gar nichts. Sehr ungeschickt! Warum hat ihn denn
niemand beraten?« Nur Richardson drückte ihm die Hand und sagte: »Es kann von
Vorteil sein. Vielleicht hat die britische Krone jetzt mehr Respekt vor Ihnen.«
    Sir John ging mit seiner Frau – jetzt Lady Franklin – auf
dem Deich von Ingoldmells am Meer entlang. Nein, er liebte sie nicht so, wie er
Eleanor geliebt hatte. Aber er mochte sie. Sie war ein ehrlicher Mensch mit
klarem Verstand, ein verläßlicher Kompagnon, und er brauchte sie als
Ersatzmutter für die kleine Ella. Mehr war es nicht, aber auch nicht weniger.
Sie sprachen offen darüber. »Wir sind beide neugierig«, meinte Lady Jane, »und
meistens fallen uns die gleichen Menschen auf die Nerven. Das ist zwar nicht
unbedingt Liebe …«
    Â»â€¦Â aber vielleicht sogar etwas noch Besseres«, antwortete Sir
John.
    Sie sahen nach links ins Watt, nach rechts in die Marschwiesen und
besprachen, wie es weitergehen sollte. Das Leben verging weitaus zu rasch. Der
Bekanntenkreis war riesig und brachte mehr Verpflichtungen als Freuden. Das
Vermögen war ansehnlich, aber es reichte noch nicht zur Finanzierung einer
arktischen Expedition auf eigene Faust.
    Sir John schnaufte. Das Wandern tat ihm gut. »Wenn Sie sich nicht
tüchtig bewegen«, hatte Richardson gesagt, »dann

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