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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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war? Wer sah am meisten, wer war
ein guter Kapitän?
    Eben enterte Nathaniel Dance in den Großtopp, um die Sache aus der
richtigen Augeshöhe zu betrachten. Wie prüfte man aber, ob ein älterer
Kommodore noch den sicheren Blick besaß oder ob er ihn verloren hatte? Nun war
er endlich im Topp, schraubte sorgfältig am Schärfering herum, spähte aus und
schneuzte sich die Nase. Dann stieg er wieder herunter – kein bißchen schneller
als vorher. Er brauchte die Offiziere nicht mehr holen zu lassen, sie und die
Mannschaft standen längst da.
    Â»Gentlemen«, sagte der alte Mann und schlenkerte ungeniert sein
linkes Bein, das ihm im Ausguck eingeschlafen war, »da sind fünf Franzosen, die
haben etwas vor. Aber sie haben nicht richtig gerechnet. Mr. Sturman, seien Sie
doch bitte so gut und lassen Sie das Schiff gefechtsklar machen. Mr. Franklin?«
    Â»Sir?« Das war zur Mechanik geworden. Wenn John seinen Familiennamen
hörte, ergänzte er ihn ohne Nachdenken sofort mit »Sir«, so kam die Antwort
nicht langsamer als bei den anderen.
    Â»Setzen Sie Signal: Schwadron klar zum Gefecht, aufschließen zur
Linie, beidrehen!«
    Zaghafter Jubel erklang. Im Grunde waren alle sehr beklommen. Die
Flaggen, die John aufheißte, brachten zunächst nur Rückfragen. Die ganze
Flottille staunte ungläubig. Schließlich stand doch so etwas wie eine
Schlachtlinie. Aber jetzt geschah Verblüffendes: auch die Kriegsschiffe drehten
bei. Noch waren ihre Rümpfe auch aus dem Topp nicht zu erkennen. »Unsere aber
auch nicht!« kicherte Fowler im Geschützdeck. »Vor morgen werden sie nichts
wagen.«
    Hinter der Insel Pulau Aur, deren Spitze man eben ausgemacht hatte,
ging die Sonne unter. Die bauchigen Handelsschiffe lagen da in ihrem grimmigen
schwarz-gelben Kleid, als wären es schwerbestückte Linienschiffe. Schafe im
Wolfspelz waren sie, die Franzosen würden sich nicht lange bluffen lassen! In
der Nacht erwarteten alle das Kommando zum Segelsetzen, aber es blieb aus.
Dance wollte tatsächlich bleiben, wo er war. Keiner schlief. Einige sagten mit
heiserer Stimme: »Warum nicht kämpfen? Wir zeigen es ihnen!« Eine Ahnung von
Mut kam auf, und wen sie nicht ergriff, der hatte wenigstens die Hoffnung, daß
die Franzosen von selbst abziehen würden, um einer vermeintlichen englischen
Übermacht zu entkommen.
    In der Dunkelheit gab es keine Signale zu setzen, John hatte Zeit,
sich mit seinen Zweifeln zu beschäftigen. Mit Entschiedenheit und Zuversicht
tat er sich heute nicht leicht. Er konnte sich nicht darauf verlassen, daß er
immer das Richtige tat. Da war die weiße Fahne damals auf der Investigator ! Ganz deutlich hatte er einen Befehl gehört,
der vielleicht nie gegeben worden war. In diesem Fall hätte er unter jedem
anderen Kapitän mit dem Kriegsgericht rechnen müssen.
    Andererseits Nelson! Der hatte vor Kopenhagen den Befehl des obersten
Admirals zum Rückzug schlicht mißachtet – kein Kriegsgericht! Aber auch Nelson
war erst im nachhinein und durch den Erfolg geschützt gewesen. Gewißheit konnte
nur einer haben, der selbst von großer Dauer war, wie die Sterne, die Berge
oder das Meer. Und die hatten wiederum keine Worte, um auszusagen, was sie aus
langem Bestand wußten. In diesem Punkt gab es, fand John, mehr Freiheit, als
man sich wünschen konnte. Das Richtige konnte man schon tun, aber es war immer
möglich, daß alle anderen es für das Falsche hielten. Sie konnten sogar recht
haben.
    Der Tag brach an. Die Segel am Horizont waren noch da und
rührten sich nicht. Die Franzosen lagen weiterhin beigedreht. Der Kommodore
ließ seine Schiffe in der alten Richtung weitersegeln, um den Gegner zur
Entscheidung zu zwingen. Es dauerte nicht lange, bis drüben die Segel sich
mehrten und heraufwuchsen. Jetzt hatte John zu tun. Dance änderte den Kurs
erneut und schickte seine Flotte genau dem Feind entgegen.
    John merkte zu seinem Ärger, daß er zitterte. Dadurch, daß er es
merkte, wurde seine Angst noch größer. Daß die Schlacht von Kopenhagen sich
wiederholen würde, hielt er nicht für wahrscheinlich, aber das half ihm wenig.
Darum versuchte er sich vorzustellen, daß dies alles irgendwann wieder vorbei
sein würde. Im Westen lag Pulau Aur. Er dachte daran, wie sich nach dem Kampf
Überlebende zu dieser Insel flüchten würden, Engländer und Franzosen. Ob

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