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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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sie
sich dann die Nahrung teilten und gemeinsame Beschlüsse faßten? Oder würden sie
einander umbringen? Auch in diesem Gedanken wohnte bereits die Angst. Also
beschloß er, an völlig andere Dinge zu denken, nützliche und freundliche. Er
zählte auf: »Proviant, Wasser, Feuerzeug, Werkzeug, Verbandsstoff, Gewehre mit
Munition …« Es war die Liste der Dinge, die bei Schiffbruch in die Boote
mußten. So etwas wußte er auswendig. Wenn er schon die Angst nicht besiegen
konnte, dann wenigstens das elende Zittern.
    Warum war Dance in der Nacht nicht geflüchtet? Das Risiko wäre
geringer gewesen. Er konnte doch unmöglich wagen, geentert zu werden!
    John fühlte sich schwach, aber er spähte, entzifferte, meldete,
bestätigte richtig. Wenn Signale kamen, bewegten sie sein Gehirn von außen.
Kamen keine, setzte er die Liste fort: »Fernrohr, Sextant, Kompaß, Chronometer,
Papier, Lotleine, Fischangel, Kessel, Nadel …« Für seine Angst war diese Liste
lang genug. Zu dem wenigen, was man aus einem sinkenden Schiff keinesfalls
rettete, gehörte der »heilige Stein«.
    Das Zittern nahm eher noch zu.
    Â»Spieren, Segeltuch, Zwirn, Flaggen …«
    Die Kriegsschiffe waren schnell heran.
    Â»Signale«, murmelte John, »lieber Gott, wenn es geht, nur Signale
diesmal!«
    Auf der Earl Camden traf eine
der ersten französischen Kugeln den Rudergänger. Dance sah zum wartenden Ersatzmann
und hob das Kinn in dessen Richtung. Dabei legte er den Kopf schief, so daß die
Stirn zum Ruder wies, das Kinn zum Mann. Er hätte auch sagen können: »Übernehmen
Sie!«, aber der Platz am Ruder troff von Blut, da redete er lieber mit Kinn und
Stirn. Dann zog er die Uhr heraus und studierte sie so sorgfältig, als sei an
James Medlicotts Tod der Zeitpunkt das Wichtigste.
    Johns Zittern verstärkte sich. Er überlegte, wie er es verbergen
könnte. Das eigene Gesicht, den eigenen Körper kann niemand festhalten. Er
bückte sich, faßte den Toten um Rücken und Knie und hob ihn auf, wie man es bei
Frauen und Kindern tat. Mockridge hatte von einem verunglückten Jungen in
Newcastle erzählt, einem Neunjährigen, der vor Müdigkeit abends in die laufende
Maschine gestolpert war. Die Geschichte hatte John sehr erschreckt. Er hatte
sich oft vorgestellt, wie er selbst das verletzte Kind davongetragen hätte,
wäre er dabeigewesen.
    Â»Der Mann ist doch tot!« rief einer der Laskars. John gab keine
Antwort. Er trug den Leichnam sorgfältig, stieß an kein Hindernis. Was er tat,
war natürlich Unsinn. Aber jetzt tat er es zu Ende, zumal dabei sein Zittern
verborgen blieb. Die Kanonen brüllten, das Schiff stieß und bockte. John legte
den Toten neben die Kranken und ging so schnell wie möglich fort. Der Wundarzt
würde feststellen, daß nichts mehr zu machen war. John stieg wieder hinauf. Er
glaubte fest daran, daß er das Unsinnige nicht aus Feigheit getan hatte. Es war
eher eine Art von Mißbilligung, ja, das war es gewesen. Und das war nicht
unwürdig. Johns Atem wurde ruhiger, die Angst wich. Oben würde jetzt bald der
Enterangriff der Franzosen kommen. John lehnte ihn genauso ab wie alles andere
an dieser Situation. In ihm war nichts als Trotz. Er sagte: »Ich kann das nicht
gutheißen, ich werde nicht kämpfen!«
    Schauen wollte er, abwarten wie ein Berg, tot oder lebendig. Für den
Krieg waren alle zu langsam, nicht nur er.
    In tiefer Ruhe stieg John die letzte Treppe zum Deck hinauf. Es gab
jetzt kaum einen entschlosseneren Menschen auf diesem Schiff als ihn, soviel
war sicher.
    Aber die Probe blieb aus.
    Alles war anders gekommen.
    Nach einer dreiviertel Stunde hatte John ein neues Signal zu setzen:
Allgemeine Verfolgung des Feindes bis zu zwei Stunden. Die Franzosen hatten
genug und rissen aus. Sie wurden gejagt von sechzehn englischen Handelsschiffen
mit wohlgestauten Ladungen von japanischem Kupfer, Salpeter, Agar-Agar und Tee
in den Bäuchen. Fünf Kriegsschiffe, die von Kanonen und Munition nur so
starrten und auf deren Decks ein Bataillon Seesoldaten mit aufgepflanztem
Bajonett bereitstand, suchten das Weite.
    Irgendwann merkte John, daß rund um ihn herum alles lachte wie toll,
ohne aufzuhören, weil die Welt im Augenblick verrückter und heller nicht sein
konnte und weil einer auf dem Vordeck gerufen hatte: »Ich glaube, die wollten
gar nicht zu uns!« John merkte

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