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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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sondern
deshalb. Niemand pflegte hier Rosen, keiner predigte oder hörte einer Predigt
zu. Man lebte schnell, weil es so schnell damit zu Ende sein konnte. In den
Docks schufteten sie hart, auch nachts im Schein der Tranlampen. Es war eine
hungrige, schnelle Stadt, und darin blieb sie sich immer gleich.
    John erfuhr, daß der nichtsahnende Matthew von den Franzosen auf
Mauritius gefangen und als angeblicher Spion in Arrest gesteckt worden sei. Er
hatte also angenommen, der Friede sei noch gültig, und war deshalb im
französischen Mauritius vor Anker gegangen, obwohl sein Begleitschreiben nur
für die selige Investigator galt. Hoffentlich ließen
sie ihm die Seekarten, die so viel Mühe gekostet hatten, und schickten ihn bald
wieder nach Hause.
    Mary Rose war noch da.
    Sie wohnte nach wie vor in der Keppel Row, nur zwei Häuser weiter.
Über dem Feuer hing der große Wasserkessel in einem wohlkonstruierten Gestell –
sie konnte damit Tee aufgießen, ohne das Wasser vom Feuer zu nehmen. Überhaupt
schien es ihr gut zu gehen.
    Sie sagte: »Du sprichst schneller als vor drei Jahren.« »Ich habe
jetzt einen eigenen Rhythmus«, antwortete John, »auch mißbillige ich mehr als
früher, das beschleunigt.«
    Marys Gesicht hatte um die geschwungenen Linien herum mehr Falten
bekommen. John sah auf ihren atmenden Körper. An den Unterarmen glänzten feine,
zarte Härchen gegen das Licht. Dieser Flaum war das Stärkste, er tat mit John
viel. Große Dinge kamen in Gang. »Mir ist wie eine Sinuskurve, alles steigt
immerzu!« Bald vergaß er die Geometrie und wußte statt dessen, daß auf der Welt
vieles wieder gut werden konnte und daß zwei Menschen genügten, um es zu bewerkstelligen.
Er sah eine himmelfüllende Sonne. Paradoxerweise war sie zugleich das Meer und
wärmte eher von unten als von oben. Vielleicht ist so die Gegenwart, wenn sie
einmal nicht davonläuft, dachte John.
    Er hörte Marys Stimme. »Bei dir ist das anders«, sagte sie. »Die
meisten sind nämlich zu schnell. Wenn es soweit ist, dann ist es auch schon
wieder vorbei.«
    Â»Das ist genau das, was ich seit einiger Zeit auch denke«,
antwortete John und war froh, denn er fühlte sich von Mary sehr verstanden. Er
betrachtete ihr Schulterblatt, wie sich da die weiße Haut über dem geschwungenen
Knochen spannte. Er besah alles genau. Am zartesten war die Haut über den
Schlüsselbeinen – die tat es ihm wieder an, sie verhieß neue Gegenwart und
Sonne von unten.
    Mary zeigte John, daß Tasten und Fühlen eine Sprache war. Man konnte
in ihr sprechen und antworten. Jedes Durcheinander war zu vermeiden. Er lernte
viel an diesem Abend. Am Ende wollte er ganz bei Mary bleiben. Sie sagte: »Du
bist verrückt!«
    Sie sprachen bis tief in die Nacht. Es war schwer, John Franklin
etwas auszureden. Falls andere Freier draußen gewartet hatten, waren sie
inzwischen mürrisch von dannen gezogen.
    Â»Ich bin auch froh, daß ich mit meinem Körper jetzt alles kann«,
raunte John. Mary Rose war gerührt. »Für so was brauchst du von heute an nicht
mehr drei Jahre um die Welt zu fahren!«
    Vor dem White Hart Inn stand der
alte Ayscough, achtzig Jahre alt, davon fünfundsechzig Soldat gewesen in Europa
und Amerika. Jeden Tag war er da, wenn die Postkutsche kam. Er sah sich genau
an, wer da ausstieg und woher er angereist war.
    Den jungen Franklin erkannte er an der Art der Bewegung. Er hielt
die Hand des Midshipman mit beharrlichem Griff, denn er wollte alles als erster
hören.
    Â»So!« sagte er schließlich. »Ein Schiff hast du also schon wieder,
und ein großes! Da werdet ihr bald wieder im Gefecht sein und England
verteidigen.«
    Dann ging John in die Richtung seines Elternhauses davon. Die Sonne
kletterte durch die Obstbäume. So weit er zurückdenken konnte, hatte er sich
von hier immer nur weggesehnt. Aber während sich seine Hoffnung aufs Entfernte
richtete, hatte er auf diese Kamine geblickt, auf das Marktkreuz und den Baum
vor dem Rathaus. Vielleicht war Heimweh nur der Wunsch, diese frühere Hoffnung
wieder zu spüren. Er wollte darüber nachdenken und stellte sein Gepäck neben
das Marktkreuz.
    Er hatte doch eine jetzige Hoffnung, eine frische. Und sie war
begründeter als die damalige. Wie kam also das Heimweh zustande?
    Vielleicht hatte er all das hier geliebt in einer Zeit, an die er
sich nicht mehr

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