Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
Vom Netzwerk:
Schultern die Epauletten
trug. Herrgott, die ließen sich doch abknöpfen! Er bot das beste Ziel!
    Auf dem Boden lag ein Sterbender und flüsterte: »No fear of that!«
Es war Overton, der Segelmeister. John trug ihn gemeinsam mit einem irischen
Bootsmann hinunter auf jenen Tisch, in den Walford ein Jahr lang jeden Abend
seine Gabel gerammt hatte. Was der Wundarzt in der Hand hielt, war kaum besser.
    Â»Ich gehe wieder zu den anderen, Mr. Overton, ich kann sie nicht
allein lassen.« Keine Antwort. Der schien es vorzuziehen, vor der Operation zu
sterben.
    Ruhig atmen! Achterdeck. Mittschiffslinie. Den starren Blick auf
alles und nichts gerichtet: Übersicht. Die Franzosen hatten die Segel in Fetzen
geschossen. Das feindliche Schiff lag mit seiner Backbordbreitseite direkt am
Steuerbordbug der Bellerophon und schoß, was nur
herausging. Jetzt kam der Enterangriff. Zweihundert Männer stürmten brüllend
vom französischen Vordeck aus los, die Klingen zuckten im Licht. Da ließ die
Dünung die beiden Schiffe für Sekunden auseinandertreiben, und die Stürmenden
fielen in die Lücke. Sie strauchelten und verschwanden, aneinandergeklammert zu
ganzen Trauben, erstaunten Blicks noch im Fallen. Nur knapp zwanzig erreichten
das Vordeck der Bellerophon, man tötete sie sofort.
John sah nach der anderen Richtung. Das Schiff stand jetzt von drei Seiten her
unter Beschuß.
    James Cooke fiel um. »Wir bringen Sie nach unten, Sir.«
    Â»Nein, laßt mich nur ein paar Minuten ausruhen!« sprach der Kapitän.
»Da!« schrie Simmonds. »Drüben im Kreuzmars!«
    Im Gewirr der ineinander verhakten Takelagen sah John einen
Gewehrlauf. Einen Dreispitz erkannte er, und unter einer schmalen, geröteten
Stirn ein Auge am Visier. Er beschloß, das zu ignorieren, und hob einen
schwarzhäutigen Matrosen auf, den es eben getroffen hatte. Andere trugen den
Kapitän hinunter. Als John und Simmonds mit dem Schwarzen in den Niedergang
stiegen, krümmte der sich ein zweites Mal zusammen. »Es war wieder der im
Kreuzmars, ich kenne schon das Geräusch!« rief Simmonds. Man konnte jetzt
wirklich einzelne Schüsse unterscheiden, das Gewehrfeuer war spärlich geworden.
»Wenn wir den nicht abschießen, kriegt er alle!« Da war also ein einziger Mann,
der alle bedrohte, mit einem Gewehr und einem weit geöffneten scharfen Auge im
Gewirr der Taue. Wer ihn zu töten versuchte, war selbst der nächste.
    Der Schwarze atmete nicht mehr, sein Herz stand still. Sie ließen
ihn liegen und kehrten um. »Laß mich vorausrennen, ich bin schneller!« sagte
Simmonds. Er jagte die Treppe hinauf, sprang aber plötzlich trampelnd kreuz und
quer wie ein verschrecktes Tier, verfehlte die oberste Stufe und kam John
wieder entgegengefallen.
    Da war jetzt ein Loch mitten in Simmonds’ Hals.
    Der Franzose mußte den Niedergang dauernd im Visier haben.
Vielleicht waren sie auch zu zweit da oben, der eine lud, der andere schoß.
John schleppte Simmonds auf seinen Armen hinunter. »Zuviel der Ehre!« flüsterte
der Kleine. Plötzlich sagte der solche Sachen! Simmonds war nicht alt genug, um
Witze zu machen, oder war er es jetzt doch? John dachte einen Moment lang an
den irischen Bischof und dessen Theorie. Die hatte ihn sehr im Stich gelassen.
    Inzwischen röchelte der Verletzte schon, ein langgezogener,
klagender Laut kam aus seiner Kehle. Vor ihnen hatte eine Kugel das Geländer
zerrissen. John mußte mit Simmonds’ Körper die Splitter zurückdrücken wie eine
Klapptür. Ich kann doch nicht immer alle hinuntertragen, dachte er. Ich trage
keinen mehr hinunter, ich bleibe oben. In der Verbandsstation schien Simmonds
noch zu leben. Cooke war schon tot. John geriet in eine klopfende, drückende
Wut. Er versuchte wieder klarzukommen, indem er die Farben der letzten vier
Signalzeichen von vorhin rekapitulierte: »Vier, einundzwanzig, neunzehn,
fünfundzwanzig.« Es war gut, bei jeder Gelegenheit auch das Einfachste zu üben.
    Dr. Orme hatte angeraten, auf die eigene innere Stimme zu hören und
nicht auf die anderen. Aber was war mit der Angst? John stand eine Weile mit
hängenden Armen da. Dumm sehe ich aus, dachte er, ich sehe sogar feige aus. Die
anderen lachen über mich zu Recht! Es ging nicht mehr, er konnte nicht länger
zusehen. Simmonds ächzte und starb. John versuchte, mit dem starren Blick an
ihm vorbeizusehen. Aber

Weitere Kostenlose Bücher