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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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die er sich umsonst gewöhnt hatte, Mockridge, Simmonds,
Cooke, Overton, der schwarze Matrose – der französische Scharfschütze geriet
ihm dazwischen und dann plötzlich Nelson. Was war das für eine Verschwendung!
»Nichts für die Ehre der Menschheit«, und was er selbst getan hatte, darüber
mußte er noch nachdenken. Eine der Frauen sah ihn sitzen. Sie dachte wohl, er
wäre am Weinen, und sagte: »Hoppla, hoppla!« John nahm die Faust von der Stirn
und antwortete: »Ich kann mir nicht mehr alle merken. Alle sind immer zu
schnell wieder weg.«
    Â»Daran gewöhnt man sich«, sagte die Frau, »und an Schlimmeres, was
du noch nicht kennst. Hier ist etwas zu trinken.« Die Frauen gaben mit ihrer
unerschütterlichen Häuslichkeit dem Krieg etwas Selbstverständliches, was er
nicht verdiente. Diese da war eine von den Blassen, Sommersprossigen. Sie hatte
zum Zahlmeister gehört, der jetzt tot war. Stunden später wußte John nicht
mehr, ob er sie geküßt oder gar mit ihr geschlafen hatte, oder ob das nur eine
Phantasie gewesen war, eine Vision nach Art des Bischofs. Keine Sonne
jedenfalls, keine Gegenwart.
    Er arbeitete immer noch zuverlässig. »Ich kann sechsunddreißig
Stunden wach sein und arbeiten«, sagte er, um sich an irgend etwas zu halten,
denn der Sieg über die Franzosen gab ihm wenig. Er merkte aber, daß die
Stundenzahl über die vergangene Zeitspanne nichts sagte. Außerdem wußte er
nicht, ob es Arbeit war, wenn man jemanden erschoß. In der Ferne sah er ein
Signal von der Euryalus, Collingwoods neuem
Flaggschiff. Der Schoner Pickle wurde nach London
beordert, um die Siegesnachricht zu überbringen. John stellte sich für einen
Augenblick den Commander Lapenotière vor, den Mann mit der langen Nase, wie er
in London erschien und mit all seiner Beredsamkeit nur vier Worte zu sagen
hatte, um alles aufspringen zu lassen: »Sieg bei Kap Trafalgar.«
    Die Bellerophon ankerte im
Spithead vor Portsmouth. Von der Küste leuchtete das Southsea Castle mit seinen
Fahnen herüber, rechts davon erkannte man mit einem guten Glas die
Gefangenenhulken, morsche, ausgediente Kriegsschiffe, die jetzt die
französischen Kriegsgefangenen aufnehmen sollten. Die riesigen alten Schiffsrümpfe
waren grau gestrichen und entmastet, jedes mit einem hohen Spitzdach und
mehreren Kaminen versehen. Sie sahen aus wie plumpe Häuser, die im Wasser
standen. Was war schon ein Schiff ohne Masten.
    In den Straßen von Portsmouth herrschte noch immer siegestrunkenes
Gewimmel – oder schien das nur so? Vielleicht war es auch nur der Alkohol, schließlich
war Sonntag, die Dockarbeiter mußten nicht in die Werften. Am Semaphor-Turm sah
John die Zeigerarme in emsiger Bewegung. Da wurde wieder eine Nachricht an die
Admiralität eingestellt, um dann von Hügel zu Hügel fortzuklappern bis nach
London. Sicher war es eine weitere Bestätigung des Sieges, so etwas hörten
Admirale immer wieder gern.
    John ging auf dem schnellsten Weg in die Keppel Row und fand aus den
vielen niedrigen Häusern das richtige heraus.
    Aus Marys Tür schaute eine Alte, die er nicht kannte.
    Â»Was für eine Mary, hier gibt es keine Mary!«
    John sagte: »Mary Rose, hier wohnte sie!«
    Er erinnerte sich längst wieder ganz deutlich an ihr Gesicht. Und
das Haus war das richtige.
    Â»Mary Rose? Die ist doch untergegangen.« Die Tür schlug zu. Drinnen
hörte John Gelächter. Er klopfte, bis noch einmal aufgetan wurde. »Also Mary
heißt hier keine«, sagte die Alte. »Oder meinten Sie die alte Frau im
Nachbarhaus – wie hieß die noch …«
    Â»Nein, jung«, sagte John, »mit hohen Bögen über den Augen!
    Â»Die ist doch tot, nicht wahr, Sarah?«
    Â»Unsinn, Mutter, die ist weggezogen. Verrückt war die.«
    Â»Wenn schon. Das kommt jedenfalls davon!«
    Â»Wo ist sie denn jetzt?« fragte John.
    Â»Weiß keiner.«
    Â»Solche Augenbögen hatte nur eine«, sagte John.
    Â»Dann werden Sie sie ja wiederfinden. Jetzt haben wir zu tun.« Damit
ging die Alte wieder hinein. Die Jüngere zögerte noch einen Augenblick. Dann
meinte sie: »Lassen Sie es lieber bleiben. Ich glaub’, die Sie suchen, die ist
weggekommen, die ist, glaub’ ich, im Spinnhaus oder wo. Die konnte wohl nicht
mehr bezahlen.«
    Spinnhaus hieß Armenhaus. In der Warblington Street sollte

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