Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
Vom Netzwerk:
eines
sein. John ging hin und bat darum, Mary Rose zu sprechen. Der Pförtner
bedauerte. Eine solche hätten sie hier nicht. Im Hintergrund schrie ein alter
Mann immer wieder: »Ratten, Ratten, helft!« Der Pförtner sagte nur noch:
»Versuchen Sie es in Portsea. Elm Road.«
    Eine halbe Stunde später traf John dort ein. Ein weiteres Armenhaus,
umgeben von einer dicken Mauer. Sie hatte keine Fenster, nur Löcher, durch
welche die Elenden heraussahen und Vorübergehende anbettelten. Lauter alte,
gichtige Hände streckten sich heraus, dazwischen zwei Kinderarme. Die
Verwalterin war überaus freundlich: »Mary Rose? Das ist die, die ihr Kind
getötet hat. Die haben wir nicht mehr hier. Sie wird im White House in der High
Street sein. Ist Ihnen was, Herr Offizier?«
    John wandte sich wieder der Stadt zu. Wenn das hier ein Armenhaus
war, wie sah dann das Gefängnis aus?
    Der Wächter am White House zuckte die Achseln: »Hier jedenfalls
nicht. Vielleicht ist sie schon auf einer Hulk und wird nach Australien
deportiert. Oder Sie versuchen es im neuen Gefängnis. Penny Street.«
    John marschierte dorthin. Es wurde schon dunkel. In der Penny Street
hörte er, daß vor morgen früh nichts zu machen sei.
    Weil er sich vorgenommen hatte, heute in einem Bett zu schlafen,
mietete er sich im teuren Hotel The Blue Posts ein –
sonst war nichts mehr frei. Er hatte auch wenig Lust, gerade jetzt die Bellerophon und die Kameraden wiederzusehen. Erst mußte er
Mary Rose wiedergefunden haben, und wenn er sie von einer Hulk herunterholte.
    Der nächste Tag brach an. Ohne weiteres drang John bis in den
Arbeitsraum des Gefängnisses vor. Ein Beamter begleitete ihn. Er sah einige
öde, abgerissene Menschen, die aus teerigen alten Tauen Werg zupften, daß die
Finger bluteten. Ein weiterer Beamter kam. Ja, eine Mary Rose sei hier, aber
die sei gefährlich und aufsässig, sie schreie oft stundenlang. Warum er sie
denn sehen wolle? »Grüße«, sagte John, »von ihrer Familie.«
    Â»Familie?« echote der Beamte zweifelnd. »Also gut, vielleicht macht
es sie ruhiger.« Er holte sie.
    Die Frau ging in Ketten, die Hände auf dem Rücken. Es war gar nicht
Mary Rose, jedenfalls nicht die, welche John suchte. Es war eine eher rundliche
junge Frau von kranker Gesichtsfarbe und mit ganz und gar stumpfsinnigem Blick.
John fragte sie, wo denn die andere Mary Rose sei, die aus der Keppel Row. Da
lachte sie plötzlich. Sie war beim Lachen fast niedlich anzusehen, denn sie zog
die Nase kraus.
    Â»Die andere Mary Rose, das war doch ich«, sagte sie.
    Dann begann sie zu schreien und wurde weggebracht.
    John trieb sich in der Stadt herum und überlegte. Mittags stand er
lang bei einer Suppenküche für die Bedürftigen und fragte nach Marys
Augenbögen. Manche sagten wieder: »Die ist untergegangen«, denn es hatte ein
Schiff dieses Namens gegeben.
    Ansonsten kannten sie entweder überhaupt keine oder zu viele Frauen,
die so hießen. Irgendwelche besonderen Augen waren ihnen nicht aufgefallen, und
sie pflegten auch nicht hinzusehen. Wie konnten sie das tun: nicht hinsehen?
Sie verschwendeten alles, was gut war, schon mit ihren stumpfen Augen.
Vielleicht hielten sie sich selbst bereits für etwas Verschwendetes. Er merkte,
daß Elend ihn anwiderte.
    John blieb drei Tage in der Stadt. Er besuchte die ärgsten
Kaschemmen, die meist stolze Namen trugen wie The Heroes, er war sogar im berüchtigten Ship Tigre am Capstan
Square. Nichts! Er fragte dort drei arbeitslose Dockarbeiter, aber die hatten
andere Sorgen. Ein Schurke namens Brunel hatte eine neue Maschine aufgestellt,
mit der zehn ungelernte Arbeiter pro Tag ebenso viele Taljenblöcke herstellen
konnten wie vorher einhundertzehn gelernte. Pulver wollten sie haben, um das
Ding in die Luft zu jagen. John riet ihnen davon ab und ging weiter. Er fragte
gut hundert Seeleute, an die dreißig Dirnen, zwei Ärzte und einen
Rathausschreiber, er fragte sogar in der methodistischen Sonntagsschule. In der
Kneipe Fortune of War zeigte ihm ein alter Mann statt
einer Antwort seinen verwelkten Oberarm: da war als Tätowierung eine schöne
Nackte zu sehen, einst prallbusig mit vollem Haar, jetzt wegen der vielen Hautfalten
selbst etwas ramponiert. Über ihr las John die Schrift »Mary Rose« und darunter
»Love«.
    Schließlich fand er eine Dirne, die sagte: »Ich kannte eine, die

Weitere Kostenlose Bücher