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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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so
aussah, aber die hieß nicht Mary Rose. Die hat vor einiger Zeit geheiratet,
einen Händler oder Hutmacher aus Sussex. Wie sie jetzt heißt, weiß ich nicht.«
    Johns Schuhsohlen waren dünner geworden. Er spürte jeden Stein.
Irgendwann saß er an einer Straßenkreuzung auf einem Karren und wußte nicht
mehr weiter. Er starrte vor sich hin und sagte: »Das gibt es also auch.«
    Die Bellerophon lief bald wieder aus.
Seine Seekiste war an Bord geblieben. Man mußte nicht notwendigerweise dorthin,
wo man eine Seekiste hatte. Der Mann, der auf der Victory das große diffuse Signal geheißt hatte, ein Able Body namens Roome, war nach
der Schlacht bei der ersten Gelegenheit desertiert. Aber das wollte John auf
keinen Fall. Es fiel ihm auch nicht ein, was er dann hätte anfangen sollen. Zur
Ostindischen Kompanie hatte man ihn nicht freigeben wollen, was blieb ihm also
übrig? Hinzu kam, daß es jetzt nur noch die Kameraden gab. Die kannte er doch
wenigstens. Er empfand es als schwerer denn je, irgend jemanden anzusprechen,
irgend jemandem zu bekennen, daß er nicht weiter wußte. Er stand auf, um zur
Pier zu gehen.
    Â»England verteidigen«, sagte er und lächelte jenes dünne Lächeln,
das er bei anderen Leuten nicht mochte.
    Der letzte, den er nach Mary Rose fragte, war ein kleiner Junge. Der
wußte es auch nicht, aber er hielt John fest und wollte etwas über die Tiere
auf der anderen Seite der Erde wissen. John setzte sich hin und erzählte vom
Riesenwaran, einer Echse, die Salvator genannt wurde.
    Auf Timor hatte er den Waran beobachtet. Aber es erstaunte ihn jetzt
selbst, daß ihm gegen seinen Willen so viel Bitteres einfiel zu dem fremden
Tier.
    Â»Der Salvator flieht nicht. Aber er kämpft auch nicht gern, das ist
gegen seine Natur. Er ist klug wie ein Mensch und hat gern Freunde. Aber er
bewegt sich kaum – meist sitzt er still da –, und darum findet er wenige. Er
wird älter als alle anderen Tiere, seine Freunde sterben vor ihm.«
    Â»Was kann er denn?« fragte der Junge ungeduldig.
    Â»Er ist bescheiden und verträglich. Nur Hühner stören ihn, die frißt
er auf, wenn er kann. Was direkt vor ihm liegt, erkennt er manchmal nicht so
gut –«
    Â»Erzähl lieber, wie er aussieht!«
    Â»Er hat hohe Schilde über den Augen und eiförmige Nasenlöcher, und
auf der schwarzen Haut gelbe Punkte. Sein Schwanz ist lang und gezackt, und die
Zunge dünn. Mit ihr betastet er alles sehr sorgfältig.«
    Der Junge sagte: »Den mag ich, glaub ich, nicht so. Der ist bestimmt
giftig.«
    Â»Das ist er nicht«, antwortete John traurig. »Aber die Leute glauben
das. Deshalb muß er viel aushalten. Die Singhalesen quälen ihn mit Steinwürfen
und mit Feuer.«
    Â»Wenn er so langsam ist, hat er selber schuld«, entschied der Junge.
    John stand auf. »Langsam? Das ist er nur scheinbar. Der schnellste
Läufer der Welt kann ihn nicht einholen, und in der Ferne sieht er viele Meilen
hinter die Kimm!«
    Damit ging er, und das war sein Abschied von Portsmouth.
    Er war unendlich müde. An seinen Untergang glaubte er nicht, aber es
schien ihm, als sei dennoch, auf eine noch nicht bestimmbare Weise, alles aus,
auch wenn es weiterging. Er konnte nicht mehr weinen wie ein Kind, schon weil
er nicht mehr glaubte, daß Weinen in der Welt etwas änderte. Aber dafür nistete
sich tief in seinem Inneren ein dauerhafter Kummer ein, lichtscheu und
allgemeingültig. Er machte sich breit und hielt sich doch verborgen, er trug
den Namen der Mary Rose, streckte aber die Finger nach allem anderen aus. John
wollte nicht untergehen: er verlegte sich wieder aufs Mithalten. Er vermied es
sorgfältig, seine Fähigkeit der Mißbilligung weiter zu üben. Dafür erntete er
Lob und wurde Leutnant. Das war nicht wenig.
    Zehn Jahre lang überließ er die wichtigste Entscheidung, die über
das eigene Leben, seiner Seekiste. Das wäre beinahe eine zu lange Zeit
geworden.

Zehntes Kapitel
    Kriegsende
    Im Morast neben der geborstenen Lafette wachte einer auf.
Er hob den Kopf, bewegte seine Finger, dann die Hände in den Gelenken, dann die
Arme aus den Schultern. Er begann seinen Körper zu betasten. Mitten in der
Stirn hatte er ein blutendes Loch, ein weiteres fand er am Hinterkopf. Auch die
Rippen und eine Schulter schmerzten stark. Die Beine konnte er nicht bewegen.
    Er saß eine Weile da und

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