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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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Augeninnere projiziert. Der Film hat nämlich — wie jede andere derartige Aufzeichnung — eine festgelegte Tiefenschärfe, so daß der Mensch zum Beispiel nicht den Blick von dem deutlichen Vordergrund auf den weniger deutlichen Hintergrund richten kann. Der Film legt somit von vornherein fest, was deutlich und was weniger deutlich gesehen werden soll, selbst wenn es ein dreidimensionaler Film (Stereoskopie) ist. Die Kontraktionsstärke der Muskeln, die für die Abflachung oder Wölbung der Linse sorgen, wird jedoch gesondert an das Gehirn gemeldet und gestattet es unter anderem, Entfernungen abzuschätzen, wenn auch in geringerem Maße als das zweiäugige Sehen. Wir müssen deshalb, da wir eine vollkommene Imitation anstreben, dem Auge auch bei dieser Akkomodationsleistung die Freiheit lassen, ganz davon zu schweigen, daß das Filmbild — »vom Standpunkt des menschlichen Auges aus« — optische Mängel hat. Der Zweck dieser langen Abschweifung war nicht so sehr, eine konkrete Lösung aufzuzeigen — denn unsere Einfälle sind ganz primitiv — , als vielmehr deutlich zu machen, daß die Aufgabe einerseits schwierig, andererseits aber auch letzten Endes lösbar ist.
       Wenn unser Mensch nun also im Dunkeln liegt, und durch all seine Nerven wandern genau dieselben Serien von Reizen zum Gehirn wie vorher, als er mit der Rose auf der Veranda saß, dann befindet er sich subjektiv wieder in jener Situation. Er wird den Himmel sehen, die Rose in seiner Hand, jenseits der Veranda den Garten, den Rasen, die spielenden Kinder usw. Ein ähnliches Experiment hat man bereits an einem Hund durchgeführt. Zunächst wurden in geeigneter Weise die Impulse aufgezeichnet, die durch die motorischen Nerven fließen, während der Hund läuft. Anschließend wurde dem Hund das Rückenmark durchtrennt. Dadurch wurden die Hinterbeine gelähmt. Als man in die Nerven der gelähmten Gliedmaßen die elektrische Aufzeichnung hineinschickte, »lebte« der gelähmte hintere Teil des Hundes »wieder auf« und führte Bewegungen aus, wie sie ein normaler Hund beim Laufen macht. Als man das Tempo der Impulsgebung steigerte, beschleunigten sich auch die Bewegungen des Hundes. Der Unterschied zwischen unserem erdachten und diesem tatsächlich durchgeführten Experiment besteht darin, daß dem Hund die Impulse im efferenten Sinne (in die motorischen Nerven) eingeführt wurden, während wir sie in die afferenten (sensorischen) Nerven einführen. Was würde nun geschehen, falls der Mensch in unserem Experiment sich zum Beispiel aus dem Sessel erheben und in den Garten gehen wollte? Natürlich würde ihm das nicht gelingen. Die Impulse, die wir in die Nerven dieses Menschen einführen, sind ja fixiert und unveränderlich. Würde er versuchen aufzustehen, dann käme es zu einer merkwürdigen Konfusion; in der Absicht, nach dem Treppengeländer zu greifen, das er in einer Entfernung von einem Meter vor sich sieht, würde er ins Leere fassen. Seine Erlebnisse würden sich aufspalten in das, was er wahrnimmt, empfindet, und das, was er tut. Verursacht wäre diese Aufspaltung durch die Divergenz zwischen seiner gegenwärtigen motorischen und der vorhergehenden, von uns aufgezeichneten sensorischen
    Aktivität.
    Ob es im Leben auch zu ähnlichen Situationen kommt?
       Es geschieht nicht selten, daß jemand, der zum erstenmal im Theater ist, sich lauthals mit »guten Ratschlägen« an die Schauspieler wendet (zum Beispiel, daß Romeo nicht Selbstmord begehen soll) und sich sehr wundert, daß die Schauspieler diese guten Ratschläge nicht zur Kenntnis nehmen. Sie reagieren darauf nicht, weil jede Kunst — sei es Theater, Film oder Literatur— »vorprogrammiert«, ein für allemal festgelegt ist und keine Einmischung in die Handlung den Gang der Ereignisse zu korrigieren vermag. Die Kunst besteht in einer einseitigen Informationsübertragung. Wir sind nur Adressaten, nur Empfänger der Filmvorführung oder der Theatervorstellung. Wir sind passive Empfänger und nicht Teilnehmer der Handlung. Das Buch vermittelt nicht eine solche Illusion wie das Theater, weil man gleich den Schluß aufschlagen und sich überzeugen kann, daß er bereits festgelegt ist. Im Theater dagegen ist der weitere Gang der Vorstellung lediglich im Gedächtnis der Schauspieler festgelegt (zumindest für denjenigen Zuschauer, der noch nicht den Text des Stückes gelesen hat). In der Science-fiction-Literatur kann man zuweilen von künftigen Unterhaltungsformen lesen, die auf einem

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