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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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ähnlichen Vorgehen beruhen sollen, wie es in unserem Experiment dargestellt wurde. Der Held befestigt an seinem Kopf entsprechende Elektroden und befindet sich plötzlich im Herzen der Sahara oder auf dem Mars. Die Autoren derartiger Darstellungen machen sich nicht klar, daß jene »neue« Kunst sich von der heutigen lediglich dadurch unterscheidet, daß die Art des »Anschlusses« an einen strikt vorprogrammierten Inhalt geringfügig geändert wurde — und daß man im stereoskopischen »Circarama«, das außer der Stereophonie eventuell noch über einen »zusätzlichen Duftkanal« verfügt, Illusionen erleben kann, die auch ohne Elektroden nicht schlechter zu sein brauchen. Das Blickfeld ist genau dasselbe wie in natura, das heißt potentiell 360 Grad, alles, was man sieht, hat drei Dimensionen, natürliche Farben, und der Duftapparat erzeugt gleichzeitig »Wüsten«- oder »Mars«Atmosphäre — die Sache braucht also gar nicht ins Jahr
    2.000 projiziert zu werden, da man sie mit einem entsprechenden Investitionsaufwand auch heute realisieren kann. Im übrigen ist es unwesentlich, wo sich wer die Elektroden hinsteckt — es sei denn, daß allein schon durch die Elektroden der Eindruck einer Zivilisation des 30. Jahrhunderts hervorgerufen werden soll.
       Wenn sich also in der »traditionellen« Kunst zwischen dem zu vermittelnden Inhalt und dem Gehirn des Empfängers dessen Sinnesorgane befinden, so werden in der »neuen« Kunst der Science-fiction diese Organe umgangen, da der Inhalt der Information unmittelbar in die Nerven eingeführt wird. Die Verbindung ist jedoch in beiden Fällen einseitig. Insofern gehört weder das von uns zu Anschauungszwecken vorgeführte Experiment noch die »neue Kunst« zur Phantomatik. Die Phantomatik bedeutet nämlich, daß zwischen der »künstlichen Realität« und ihrem Empfänger wechselseitige Verbindungen geschaffen werden. Die Phantomatik ist, anders gesagt, eine Kunst mit Rückkoppelung. Selbstverständlich könnte sich jemand Schauspieler mieten, sie als Höflinge des 17. Jahrhunderts und sich als König von Frankreich verkleiden und dann mit den Verkleideten in einer entsprechenden Umgebung (zum Beispiel einem angemieteten alten Schloß) das Spiel »Ich herrsche auf dem Ludwigsthron« aufführen. Ein solches Vorgehen hat mit der Phantomatik nicht im entferntesten etwas zu tun, schon deshalb nicht, weil man den Handlungsbereich verlassen kann.
       Phantomatik bedeutet, daß eine Situation geschaffen wird, in der es aus der Welt der erzeugten Fiktion keine »Ausgänge« in die reale Welt gibt. Überlegen wir nun, mit welchen Mitteln sich diese Situation realisieren läßt, und erörtern wir dann die interessante Frage, ob überhaupt ein Verfahren denkbar ist, mit dem der Phantomatisierte sich davon überzeugen kann, daß seine Erlebnisse lediglich eine Täuschung sind, die ihn von der vorübergehend abhanden gekommenen Realität fernhält.

    Die phantomatische Maschine

    Was kann ein Mensch erleben, der an den phantomatischen Generator angeschlossen ist? Alles. Er kann steile Alpenwände erklimmen, ohne Raumanzug und Sauerstoffmaske auf dem Mond herumwandern, an der Spitze einer ergebenen Mannschaft in klirrender Rüstung mittelalterliche Burgen erobern — oder auch den Nordpol. Er kann als Sieger im Marathonlauf oder als größter Poet aller Zeiten von den Massen umjubelt werden und aus der Hand des schwedischen Königs den Nobelpreis empfangen, Madame de Pompadour lieben und bei ihr auf Gegenliebe stoßen, sich mit Jago duellieren, um Othello zu rächen, und er kann von Killern der Mafia erdolcht werden. Auch möglich, daß er fühlt, wie ihm gewaltige Adlerflügel wachsen, daß er fliegt, oder auch, daß er zum Fisch wird und sein Leben zwischen den Korallenriffen verbringt; daß er als ein riesiger Hai mit aufgerissenem Rachen in einen Schwarm von Opfern hineinfährt, ach, was sage ich!, daß er badende Menschen fortreißt, sie mit Appetit verspeist und in einem stillen Winkel seiner unterseeischen Grotte verdaut. Er kann ein zwei Meter langer Neger sein, oder der Pharao Amenhotep, oder Attila, aber auch — gewissermaßen umgekehrt — ein Heiliger, ein Prophet, einschließlich der Garantie, daß seine Prophezeiungen sich bis aufs I-Tüpfelchen erfüllen; er kann sterben und von den Toten wiederauferstehen, und das viele, viele Male.
    Wie lassen sich derartige Erlebnisse realisieren? Ganz einfach ist das sicherlich nicht. Wir müssen das Gehirn dieses Menschen

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