Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
Vom Netzwerk:
Durch ihren Einfluß auf den Chemismus des Gehirns rufen sie Zustände hervor, die subjektiv teils als erhaben, teils als lustvoll erlebt werden; zuweilen appellieren sie mehr an die ästhetischen, dann wiederum mehr an die emotionalen Seiten der Seele. Im übrigen sind diese beiden Verfahrensarten häufig kombiniert worden, um so die Erlebnisse aufs höchste zu steigern; mit der Phantomatik haben diese Praktiken das gemein, daß sie die dem Gehirn zugeführte Information aktiv beeinflussen, um es in einen Zustand zu versetzen, der nicht deshalb erstrebt wird, weil er eine angemessene Regelung des Verhältnisses zur Umwelt bedeutet, sondern weil er Lust bzw. Erschütterung (Katharsis) hervorruft, also ganz einfach ein machtvolles und tiefes Erlebnis. Waren diese alten Praktiken vielleicht kollektive Äußerungen von Sadismus oder Masochismus? Waren sie eine Erscheinung des religiösen Lebens? Oder waren es die ersten Anfänge der »Massenkunst«, die zwischen Schöpfern und Adressaten nicht unterscheidet, sondern alle zu Mitschöpfern des »Werkes« macht? Wieso uns das interessiert? Weil es in einer gewissen Weise mit der Klassifikation der Phantomatik zusammenhängt.
       Die verschiedenen Schulen der Psychoanalyse neigen dazu, alles menschliche Handeln auf elementare Triebe zurückzuführen, ob es nun die puritanische Askese ist, die als »Masochismus« — oder die krasseste Ausschweifung, die als »Sadismus« etikettiert wird; unser Einwand gegen diese Thesen ist nicht, daß sie falsch seien, sondern vielmehr, daß ihre Wahrheit allzu trivial ist, als daß sie zur Erkenntnis beitragen könnte. Über den Pansexualismus zu diskutieren ist ebenso unfruchtbar, wie es ein Streit über die Frage wäre, ob der Geschlechtsakt eine Äußerung der Sonnenaktivität ist. Letzten Endes ist er das sicher, denn das Leben verdankt ja seine Entstehung der Strahlung der Sonne; man könnte also, indem man die lange Kette von Ursachen und Wirkungen darstellt, die von unserem Stern ausgehend über die Erdrinde und weiter durch die Entwicklungsreihen der Evolution verläuft, aufzeigen, wie der Energieverfall der Strahlungsquanten in den Pflanzen, die wiederum Nahrung für die Tiere sind, zu denen auch der Mensch gehört, letzten Endes, auf einer von der Energiequelle bereits unendlich weit entfernten Stufe zu Geschlechtsakten führt, dank denen dieser ganze Prozeß überhaupt fortgesetzt werden kann (denn ohne Vermehrung der Organismen würden alle aussterben). In diesem Sinne kann man auch sagen, daß in einem Kunstwerk der Geschlechtstrieb sublimiert worden sei. Wenn man das sagt, spricht man eher eine Metapher als eine Wahrheit aus — jedenfalls ist es keine wissenschaftliche Wahrheit. Nicht alles ist nämlich eine wissenschaftliche Wahrheit: der Ozean der irrelevanten Variablen ist größer als der Ozean der Dummheit, und das will schon etwas heißen.
       Läßt man die Ketten von Ursache und Wirkung nur genügend lang werden, dann bekommt jeder Versuch, weit auseinander liegende Etappen miteinander zu verknüpfen, etwas Metaphorisches, statt eine wissenschaftliche Aussage zu sein. Das gilt ganz besonders für komplexe Systeme von der Art des Neuronennetzes, bei denen wegen der Vielzahl innerer Verknüpfungen und Rückkopplungsschleifen schwer festzustellen ist, was Wirkung und was Ursache ist. In einem so komplexen Netzwerk wie dem menschlichen Gehirn nach »ersten Ursachen« zu suchen ist reinster Apriorismus. Auch wenn sich der psychoanalytische Psychiater dagegen verwahren wird, so muß doch aus seinen Behauptungen gefolgert werden, daß ein strenger Erzieher und Jack the Ripper sich nur in der Weise voneinander unterscheiden wie zwei Autos, von denen das erste weit bessere Bremsen hat als das zweite und deshalb keine Katastrophe verursacht. Vor Jahrhunderten waren die künstlerische, die magische, die religiöse und die unterhaltende Aktivität nicht so voneinander abgegrenzt wie heute. Wenn wir die Phantomatik als »Unterhaltungstechnik« bezeichnen, so mit Rücksicht auf ihre genetischen Zusammenhänge mit entsprechenden Techniken von heute, was aber über ihre künftigen, vielleicht universellen Aspirationen nichts besagt.
       In unserem Klassifikationssystem gehört die periphere Phantomatik in den Bereich der mittelbaren Einwirkung auf das Gehirn, da die phantomatisierenden Reize lediglich Information über Tats achen liefern; in analoger Weise wirkt ja auch die Realität. Sie determiniert immer nur die

Weitere Kostenlose Bücher