Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
Onno nie eine Antwort. »Lies es nach«, pflegte er zu sagen, »im Journal of Near Eastern Studies. Ich mache nicht gerne Überstunden.« Aber jetzt, auf die Frage, wie er diese Schrift entziffert habe, erklärte er geduldig, daß keine Rede sein könne von Entziffern, da sie seit Jahr und Tag lesbar gewesen sei. Sie bestehe in groben Zügen aus dem griechischen Alphabet, aber es sei kein Griechisch, es sei unbegreiflich. Es sei, wie wenn jemand, der kein Griechisch könne, das griechische Alphabet lerne und dann versuche, die Ilias zu lesen. Die Etrusker seien ein italienisches Volk, dozierte er, das in der heutigen Toskana gelebt habe: Tusci nannten sie die römischen Eroberer.
    Das Lateinische sei voller etruskischer Lehnwörter, wie zum Beispiel persona für Maske, aber ansonsten sei nur von wenigen Wörtern die Bedeutung bekannt, zum Beispiel die für Gott, Frau und Sohn. Das Problem sei, daß es eine größere ›bilingue‹ wie Champollions Stein von Rosette nicht gebe, mit demselben Text jeweils im Etruskischen und in einer bekannten Sprache. Die Etrusker hätten wohl etwas mit den Griechen zu tun, ihre Sprache jedoch nichts mit dem Griechischen. Sie schrieben ihre Sprache phonetisch, mit griechischen Buchstaben, wie Gymnasiasten der ersten Klasse ihre Namen oder Niederländer die lateinischen Buchstaben. Das Volk sei etwa im neunten Jahrhundert vor Christi Geburt von irgendwoher gekommen, wo auch Griechen gewesen seien. Aber – und das sei der entscheidende Einfall gewesen – es sei natürlich auch möglich, daß die Griechen irgendwann ihr Alphabet von den Etruskern übernommen hätten, um damit ihre eigene Sprache phonetisch zu schreiben: Griechisch. Das sei jedoch ziemlich abwegig; aber über diesen Gedankengang sei er, gestützt von allerlei archäologischen Überlegungen, auf die kretischen Sprachen gekommen: Linear B aus dem fünfzehnten Jahrhundert vor Christus, vor fünfzehn Jahren durch seinen Kollegen Michael Ventris entziffert, und Linear A aus dem achtzehnten Jahrhundert, hinter denen sich wiederum semitische Ursprünge verbargen … »Kurz, mein bester Watson«, sagte er, als sie an Schiphol vorbeifuhren, »durch Kombinieren und Deduzieren und eine ganze Menge Glück und Weisheit kam ich dahinter. Der hochgelehrte Pellegrini hält mich zwar immer noch für einen Phantasten und Scharlatan, aber das deutet hauptsächlich auf seine autistische Art hin.«
    »Was hast du studiert?«
    »Jura.«
    »Jura?«
    »Das ist ein Familienleiden.«
    »Aber all die Sprachen …«
    »Liebhaberei. Ich bin Amateur, wie der große Ventris, der von Haus aus Architekt war. Wenn es sein muß, lerne ich eine Sprache in einem Monat. Ich konnte bereits lesen, als ich drei Jahre alt war.«
    »Und wie viele Sprachen beherrschst du?«
    »Im Zählen bin ich schlecht. Das ist wahrscheinlich eher dein Metier. Wie viele Sterne gibt es?«
    »Wir haben sie noch nicht alle gezählt. Die Zahl ist übrigens nicht konstant. Schon allein in unserem eigenen Milchstraßensystem gibt es etwa einhundert Milliarden. Genauso viele, wie der Mensch Gehirnzellen hat.«
    »Speak for yourself.«
    »Darüber hinaus sind auch noch etwa hundert Milliarden extragalaktische Systeme bekannt, das sind genauso viele, wie ich Gehirnzellen habe, also kannst du es dir ausrechnen.
    Eine Eins mit zweiundzwanzig Nullen. Wie viele Sprachen gibt es?«
    »Nicht der Rede wert. Rund fünftausendzweihundert.«
    »Kannst du auch Hieroglyphen lesen?«
    »Welche Hieroglyphen?«
    »Ägyptische.«
    »Ist ganz einfach. Aufsagen kann ich sie auch. Paut neteroe her resch sep sen ini Asar sa Heroe men ab maä kheroe sa Ast auau Asar. Was soviel heißt wie: ›Der Paut der Götter ist erfreut über die Ankunft von Osiris’ Sohn Horus, aufrecht im Herzen, dessen Wort absolut ist, Sohn der Isis, Erbe des Osiris‹.«
    »Nur zu. Was bedeutet Paut ? «
    »Ja, das ist ein bißchen schwierig. Zu dumm, daß du das fragst. Nach Meinung der meisten Kenner meint es wohl die Ursubstanz, aus der die Götter gemacht sind; aber eigentlich ist es noch komplizierter, denn im Totenbuch sagt der Schöpfergott: Ich brachte mich selbst hervor aus der Ursubstanz, die ich erschuf. Aber laß dich nicht ermüden mit solchen archaischen Paradoxa.«
    »Sie kommen mir aber ziemlich modern vor«, sagte Max.
    »Wo wohnst du? Ich setze dich vor deiner Tür ab.«
    Es stellte sich heraus, daß sie beide im Zentrum wohnten, nicht sehr weit voneinander entfernt. Während sie in die Stadt hineinfuhren,

Weitere Kostenlose Bücher