Die Entdeckung des Himmels
erzählte Onno, daß er die Hieroglyphen bereits lesen konnte, als er elf Jahre alt war. Er hatte es sich selbst beigebracht mit Hilfe eines alten englischen Lehrbuchs, das er für zwei Groschen auf dem Markt erstanden hatte, und auf diese Weise, mit einem Wörterbuch, hatte er zugleich auch Englisch gelernt. Das sei im letzten Kriegswinter gewesen, sagte er, in dem ihm Hunger und Kälte definitiv den Rest gegeben hätten – aber er frage sich gerade, warum er das jetzt einem Wildfremden erzähle. Zu Hause, als Junge, habe er nie über seine Sprachstudien gesprochen. Er hatte gedacht, jeder, der sich nur die Mühe machte, könnte das auch. So ging es wohl immer mit dem Talent: einem Dichter war es unvorstellbar, daß jemand nicht schreiben konnte. Daß es trotzdem nicht jeder konnte, wurde ihm erst nach dem Krieg klar, als die Familie einmal Urlaub in Finnland machte. Sie waren in ihrem Hotel in Hämeenlinna, irgendwo zwischen den trübsinnigen Seen und Nadelwäldern, und am Abend vor ihrer Abreise war das Essen kalt oder bestenfalls lauwarm. Der Vater rief den Geschäftsführer, der daraufh in tat, als ob er den Ober maßregelte; tatsächlich aber sagte er, daß er sich von diesen popeligen Käseköpfen nichts gefallen zu lassen brauche, denn morgen würden sie ohnehin verschwinden zu ihren stumpfsinnigen Tulpen und Windmühlen. Woraufh in er, Onno, den Geschäftsführer fragte, ob vielleicht er nicht ganz richtig im Kopf sei, in dieser Form über seine Gäste zu sprechen, und ob er vielleicht wolle, daß ihm der Schädel eingeschlagen werde mit einem echten holländischen Holzschuh.
Alle waren sprachlos. Er konnte Finnisch sprechen! Nach drei Wochen! Eine ugrische Sprache! Und als er das perplexe Gesicht seines Vaters sah, hatte er gedacht: – Ich bin dir überlegen, Exzellenz.
»Bist du der Sohn von jenem Quist?« fragte Max überrascht.
»Ja, von jenem Quist.«
»War er vor dem Krieg nicht Premierminister oder so was?«
»Würdest du vielleicht etwas weniger salopp von meinem Vater sprechen, Delius, Max? Die vier Jahre Kabinett Quist gehören zu den dunkelsten der menschlichen Kultur. Das niederländische Volk ächzte unter der theokratischen Schreckensherrschaft meines Herrn Vaters, über den ich kein schlechtes Wort hören möchte – und schon gar nicht aus dem Mund von jemandem mit einem derart lächerlichen Automobil.«
»Es hat uns zumindest nach Hause gebracht«, sagte Max und hielt an. »Du selbst kannst gar nicht Auto fahren, wenn du mich fragst.«
»Natürlich nicht! Wofür hältst du mich? Für einen Chauffeur? Es gibt Dinge, die man nicht können darf. Was man zum Beispiel auch nicht können darf, ist, das Essen mit Gabel und Löffel zwischen den Fingern einer Hand vorzulegen, denn dann ist man ein Ober. Das kannst du natürlich auch, aber ein Gentleman wie ich tut das ganz ungeschickt mit zwei Händen, und dann lasse ich noch immer die Hälfte auf das Tischtuch fallen, und so gehört sich das auch.«
Im Licht der Straßenlaternen in der schmalen Gasse konnten sie einander jetzt besser sehen. Onno fand, daß Max eigentlich viel zu gepflegt aussah, um ernst genommen werden zu können; er trug eine Art angelsächsisches, bourgeoises Outfit, mit Jackett und kariertem Hemd, das ihm bei seinen Brüdern und Schwägern über die Maßen zuwider war. Max seinerseits fand, daß Onno keine schlechte Figur als Leierkastenmann machen würde; zudem gab es um seine Ohren und am Kinn einige Stellen, die er beim Rasieren ausgelassen hatte.
Vielleicht war er beim Stieren auf seine Ideogramme kurzsichtig geworden.
Onno schlug vor, zu Max’ Haus zu fahren, er würde dann zu Fuß zurückgehen. Zufrieden stellten sie fest, daß noch Leute auf der Straße waren und überall in den Häusern noch Licht brannte, während in Den Haag schon alles Leben vollständig verschwunden war. Vor dem hohen Zaun am Park schloß Max sein Auto ab und zog seinen Mantel an; Onno sah, daß er auch noch Wildlederschuhe trug. Er wollte sich verabschieden, aber jetzt war es Max, der sagte: »Komm, ich begleite dich ein Stück.«
Aus der Richtung des Leidseplein waren Polizeisirenen zu hören: es war etwas im Gange, vielleicht Nachgeplänkel einer Demonstration gegen die Amerikaner in Vietnam.
»Bist du etwa auch Ehrendoktor der Universität von Uppsala?« erkundigte sich Onno.
»So weit habe ich es noch nicht gebracht.«
»Du bist also kein Ehrendoktor an der Universität von Uppsala?« rief Onno entsetzt und blieb stehen. »Kann
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