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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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traf es unzählige andere, es gab nie einen Tag oder eine Nacht oder auch nur einen Moment, in dem solches Unglück nicht geschah, solange die Menschheit existierte. Ohne Unterbrechung irrte das Unheil auf der Erde umher wie eine Schwalbe durch einen Mückenschwarm, mit plötzlichen Schwenks, den Schnabel sperrangelweit geöffnet. Als er am Lob der Torheit aus dem Taxi stieg, hatte der Regen endlich aufgehört. Im Laden brannte Licht. Von irgendwoher in der stillen Stadt war das Gejohle von Studenten zu hören, die aus ihrer Stammkneipe kamen. Gleich nachdem er geklingelt hatte, erschien Sophia Brons in der Bücherhöhle. Ihr Gesicht war unbewegt, und ihre Augen zeigten nicht die Spur einer Rötung. 
    Als sie die Tür öffnete und ihn sah, schien sie kurz zu erschrecken und schaute schnell nach links und nach rechts auf die Straße. »Wie siehst du denn aus! Was ist passiert? Wo sind Ada und Onno?«
    »Wir hatten einen Unfall auf dem Weg hierher, aber machen Sie sich keine Sorgen, alle leben.«
    »Einen Unfall?« wiederholte sie. Ihre kalten, dunklen Augen sahen ihn auf eine Art und Weise an, daß er sich sofort schuldig fühlte. »Und ihr Kind?«
    »Alles in Ordnung. Sie sind im Krankenhaus von Hoogeveen. Ich bin mit dem Taxi hierhergefahren. Ich war gerade in der Uniklinik, dort habe ich die schreckliche Nachricht von Ihrem Mann erfahren. Furchtbar.«
    Sie sah wieder auf seine Schrammen und auf die zerrissenen Kleider.
     »Alles hat einmal ein Ende«, sagte sie mit unbewegtem Mund. »Komm herein.«
    Onno kannte seine Schwiegermutter schlecht: sie war nicht der Typ Frau, der nachsichtig behandelt werden mußte und durch einen Anruf aus der Fassung geriet. Durch das Labyrinth der Lesbarkeit der Welt folgte er ihr ins Hinterzimmer. Poesie. Technik. Theologie. Auf dem niedrigen Tisch lag ein offenes Fotoalbum, daneben eine schwarze Lesebrille. Über der braunen cordbezogenen Couch hing ein großes Porträt von Multatuli, das ihm beim letzten Mal nicht aufgefallen war: in der romantischen Herrscherpose eines bayerischen Königs, die Pelerine wie einen Hermelinmantel über der Schulter, sah er mit wäßrigen Augen der Wahrheit ins Angesicht. 
    »Eine Tasse Kaffee?«
    »Schrecklich gern.«
    Während sie ihm einschenkte, erzählte er, was passiert war. Als er beunruhigt berichtete, daß Ada noch immer ohne Bewußtsein war, unterbrach sie das Rühren in der Tasse und sagte:
    »Noch immer? Schon gut drei Stunden?« Sie überlegte. »Zum Glück ist sie ja noch jung. Ich habe Patienten erlebt, die tage- oder wochenlang im Koma waren, ohne bleibende Schäden.«
    Verwundert sah er sie an. 
    »Haben Sie in der Krankenpflege gearbeitet?«
    »Vor langer Zeit. Im Krieg.«
    »Wie es jetzt ist, weiß ich allerdings nicht. Ich habe vorhin vom Krankenhaus aus noch mit Onno telefoniert, da war gerade der Neurologe bei ihr. Soll ich für Sie in Hoogeveen anrufen? Ich habe die Nummer.«
    Sie zeigte auf das Telefon. 
    »Bitte.«
    »Onno weiß Bescheid über das mit Ihrem Mann«, sagte er, während er die Nummer wählte. »Er war sehr mitgenommen. Er sagte übrigens, daß er dafür sorgen würde, Ada morgen nach Amsterdam überführen zu lassen.« Als er die Verbindung bekam, gab er Sophia den Hörer. 
    »Hier Brons«, sagte sie. – »Danke. – Ich danke dir, Onno. – Ich weiß es nicht. Ich war bei einer Lesung über Thoreau und Gandhi. Als ich nach Hause kam, lag er in der Küche am Boden, bewußtlos. – Ja. – Ja, ist schon gut. – Ich habe es eben erfahren. Er ist jetzt hier. – Ja. – Ja. – Ja. – Ja. – Natürlich. – Ja. – Oh. – Ja. – Ja. – Ja. – Sagst du mir dann noch Bescheid? – Gut. – Selbstverständlich. – Bis morgen.«
    Als sie sich wieder gesetzt hatte und nichts sagte, fragte Max:
    »Und?«
    »Die Aufnahmen sind gut. Keine Schädelbasisfraktur oder etwas Ähnliches. Wir müssen abwarten. Morgen wird sie in Amsterdam aufgenommen, vermutlich im Wilhelmina Gasthuis. Dort wird dann ein EEG gemacht.«
    Max nickte. Er wußte nicht mehr, was er sagen sollte und fragte:
    »Wie alt war Ihr Mann?«
    »Siebenundvierzig.«
    »Und dann schon so einen Herzinfarkt. Aber er hat doch hier zwischen seinen Büchern ein ruhiges Leben geführt?«
    »Keiner weiß, was für ein Leben jemand wirklich führt.«
    Max nickte. »Da könnten Sie wohl recht haben.« Er hielt einen Moment inne und sagte dann: »Es gibt Menschen, die ständig unter einem wahnsinnigen Druck stehen und trotzdem hundert Jahre alt werden. Was

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