Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
bewegen, setzte er vorsichtig den Trichter auf ihren Hals, hielt den Kopf etwas schief und horchte. Niemand rührte sich. Max’ Herz schlug heftig. Ihm war, als sei der ungleiche Rhythmus der Signalleuchten das einzige Geräusch. 
    »Sie lebt«, sagte der Sanitäter. 
    Max holte tief Luft und legte sich die Hände über die Augen. Dann sah er in Onnos triefendes, verschmiertes Gesicht und umarmte ihn. 

    Ada kam auch im Rettungswagen nicht zu Bewußtsein. Max saß neben dem Fahrer, der keine Auskunft gab; als er am Krankenhaus in Hoogeveen ausstieg, bemerkte er, daß auch Onnos Erleichterung einer neuen Unruhe gewichen war. Ada wurde sofort in die Notaufnahme gefahren, und sie wurden von einer Krankenschwester in einen Waschraum geführt. In der hellen, stillen, keimfreien Umgebung erschraken sie, als sie sich im Spiegel sahen: zerrissene Kleider, triefend, schlammverkrustet, voller grüner Streifen aus Baumrinde, Gesicht und Hände blutend und verschrammt. Es schien, als kämen sie nicht nur aus einem lebensgefährlichen Unwetter, sondern in irgendeiner Weise auch aus einer anderen Zeit. 
    »Wenn das nur gutgeht«, sagte Onno. »So ein sinnloser Mist. Daß wir ausgerechnet auch da stehen müssen, wo der verdammte Baum umstürzt. Was soll das bloß heißen?«
    Max spülte sich den Mund aus und antwortete nicht gleich. Er begriff, daß Onno den sinnlosen Mist der Existenz zum ersten Mal am eigenen Leibe erfuhr. Daß in jedem Augenblick alles geschehen konnte, war für ihn selbst so selbstverständlich wie der ebenso sinnlose Umstand, daß es an einem Tag schön war und am anderen nicht. So war das nun einmal auf der Erde. Am Himmel war das anders, dort herrschten viel rigidere Gesetzmäßigkeiten: die Sonne ging immer auf, und nicht manchmal nicht, oder erst einen Tag später, sondern immer genau im vorhergesagten Augenblick. Aus dieser Richtung drohte keine Gefahr. Aber das hatte alles nichts mit dem Leben auf der Erde zu tun, und vielleicht hatte er gerade deshalb diese unmenschliche Verläßlichkeit zu seinem Beruf gemacht.
     »Andererseits«, sagte er, »wenn sie hinten gesessen hätte, auf deinem Platz, hätte sie es nicht überlebt.«
    Mit beiden Händen warf sich Onno Wasser ins Gesicht, und plötzlich erstarrte er. Langsam richtete er sich auf und sah Max mit weiten Augen im Spiegel an. 
    »Max«, sagte er leise, fast flüsternd. »Adas Vater –.«
    »Gütiger Himmel! Daran habe ich keine Sekunde mehr gedacht.«
    Entgeistert sahen sie sich an. »Auch das noch«, sagte Onno. »Wie soll das jetzt gehen?«
    »Du mußt anrufen.«
    »Anrufen? Wie stellst du dir das vor? Denk doch an die Frau. Ihr Mann erleidet einen schweren Herzinfarkt und muß ins Krankenhaus. Dann läutet das Telefon, und sie bekommt die Nachricht, daß ihre schwangere Tochter einen Unfall hatte und im Koma liegt. Das überlebt sie nicht.«
    »Aber was sollen wir machen?«
    »Du mußt hinfahren und es ihr behutsam beibringen. Ich bleibe hier, bei Ada, das steht fest.«
    »Und wie soll ich da hinkommen?«
    »Mit einem Taxi. Auf meine Kosten.«
    »Das kostet einige hundert Gulden. Haben wir so viel dabei?«
    »Sonst borgen wir uns hier was.«
    Max sah auf die Uhr. »Es ist Viertel nach eins. Wir hätten ungefähr jetzt in Leiden sein müssen. Bis ich da bin, wird es drei Uhr sein. Aber ich mach’s natürlich.«
    Sie gingen ins Wartezimmer, wo sie ihr Geld zusammenlegten und ein Taxi rufen ließen. Der Fahrer des hiesigen Unternehmens lag bereits im Bett, aber in zwanzig Minuten würde er dasein. Während sie warteten, erschien ein blonder junger Mann im weißen Kittel, der sich als der diensthabende Arzt vorstellte. Er könne noch wenig sagen. Sie sei noch immer bewußtlos, aber es sehe so aus, als ob sie nichts gebrochen hätte; Blutdruck, Puls und Atmung seien normal. Auch mit ihrem Kind scheine alles in Ordnung zu sein. 
    »Gott sei Dank«, sagte Onno. 
    »Wir müssen die neurologische Untersuchung abwarten.«
    »Und wann ist die?«
    »Gleich. Wir haben den Neurologen aus dem Bett geholt.«
    Da das Taxi noch nicht da war, ging Max mit in das Krankenzimmer. Mit geschlossenen Augen lag Ada auf dem Kis -sen; am Arm war eine Infusion angelegt worden. Die Wölbung ihres Leibes unter der Decke wirkte wie eine Flutwelle. Es lag etwas in ihrem Gesichtsausdruck, das ihm auffiel und ihm bekannt vorkam, das er aber nicht sofort einordnen konnte. Später dann wußte er es plötzlich: es war der Gesichtsausdruck, den sie hatte, wenn sie Cello

Weitere Kostenlose Bücher