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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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nicht dabei erwischt.«
    »Vielleicht«, sagte Max, »hat er keine Vorstellung von der Länge der Kordel, weil er kein Zeitbewußtsein hat.«
    Mit verschlossenem Gesicht sah die Baronin ihn an.
    »Kann sein.«
    Max hatte das Gefühl, zu weit gegangen zu sein: wer von der Zeit spricht, spricht auch zugleich über den Tod.
    Auf dem Weg am Ende des Gemüsegartens näherte sich ein Traktor, der von einem großen Mann in Arbeitskleidung gefahren wurde; nur der sandfarbene Hut, dessen Krempe auf einer Seite hoch- und auf der anderen nach unten geschlagen war, ließ vermuten, daß der Fahrer keiner der Landarbeiter des Gutes war. In grünen Gummistiefeln kam er zum Wintergarten und reichte Max seine harte, schwielige Hand, ohne hereinzukommen. Sein Gesicht hatte etwas Strenges, war aber nicht unfreundlich; er trug einen gepflegten, weißen Schnurrbart.
    »Sie kommen gerade rechtzeitig, ich bin schon zehnmal angerufen worden. Wollen wir gleich gehen?«
    Zum zweiten Mal begriff Max, daß die Verhältnisse klar bleiben sollten, auch wenn er von einem Freund empfohlen worden war. Während er neben seinem künftigen Vermieter durch den Gemüsegarten zur Straße ging, wurde er nun doch zunehmend neugierig, was er zu sehen bekommen würde.
    Ohne es sich selbst wirklich einzugestehen, hofft
    e er auf eine idyllische Remise zwischen den Bäumen mit einem Stück Rasen davor; aber sicherheitshalber machte er sich auf ein trauriges Moorarbeiterhäuschen an einem Kanal gefaßt, der reglos auf ertrinkende Kleinkinder wartete. Daß es das nicht werden würde, war klar, als Gevers sagte, sie könnten zu Fuß gehen, es sei ganz in der Nähe. Max erzählte von den Ambonesen, die er durch den Wald hatte robben sehen.
    »Das sind diese blöden Molukker aus Schattenberg«, sagte der Baron, »einige Kilometer von hier. Die bereiten sich auf die Befreiung ihrer Insel am anderen Ende der Welt vor.«
    Schattenberg: das war der heutige Name des Lagers Westerbork.
    »Ich dachte tatsächlich, ich träume«, sagte Max.
    Der Baron nickte.
    »Die Welt wird von Träumen zusammengehalten. Zum Glück sind es nur noch wenige, und die werden demnächst dank der Sternwarte auch verschwunden sein.«
    Sie begegneten drei Mädchen zu Pferd, die fröhlich »Guten Tag, Herr Gevers!« riefen. Einige hundert Meter weiter, wo der Weg eine leichte Biegung machte, führte eine Abzweigung zu einem großen, eisernen Tor, das an zwei behauenen Sockeln aus Naturstein befestigt war, auf denen schildtragende Löwen saßen. Eine Brücke führte über einen schmalen Graben zu einer langen, von einer doppelten Baumreihe gesäumten Auffahrt; am Ende befand sich eine zweite Brücke, die über einen Graben zum Vorplatz eines Schlosses führte.
    »Groot Rechteren«, sagte Gevers mit einer ausladenden Geste und öffnete das quietschende Tor.
    Ein Schloß! Während sie über die losen Bretter der Brücke zur Auffahrt gingen, erzählte er, schon sein Vater, sein Großvater und auch er seien hier geboren, aber es werde alles zu teuer, vor allem das Personal, und man könne es nicht mehr heizen, ohne bankrott zu gehen. Deshalb seien sie nach Klein Rechteren umgezogen und hätten das Schloß provisorisch in Appartements aufgeteilt, die von ein paar anständigen Leuten bewohnt würden – bis auf eines, darin wohne ein Kommunist, aber das würde jetzt frei.
    Sprachlos sah Max auf das große, breite Schloß; es wurde an den Flügeln und auf der Rückseite von riesigen, alten Bäumen umfaßt, machte einen etwas verwahrlosten Eindruck und war auch nicht wirklich schön – offenbar war es im Laufe der Jahrhunderte wiederholt umgebaut und erweitert worden –, aber es war unverkennbar ein Schloß : ein Bauwerk, das sich von einem Haus unterschied wie ein Adler von einem Huhn.
    Die Fassade, die vielleicht erst aus dem neunzehnten Jahrhundert stammte, war glatt und symmetrisch, und auf Höhe des Dachbodens, in einem Spitzgiebel über dem Eingang, befand sich eine Uhr ohne Zeiger. Oberhalb einer Reihe bogenförmiger Kellerfenster zu ebener Erde führte eine Treppe sowohl von links, als auch von rechts zur Eingangstür, die von hohen Sprossenfenstern flankiert wurde; die obere Etage schloß rechter Hand mit einem großen Balkon ab; darunter war ein Container aufgestellt, in den jemand alte Bretter und allen möglichen Müll geworfen hatte. Die Rückseite schien älter zu sein und wurde von einem Spitzdach und einem viereckigen Turm mit Wetterhahn gekrönt. Konnte es wahr sein, daß er an diesem

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