Die Entdeckung des Himmels
Pfütze und rief:
»Ich bin der Regen!«
Als Max Onno das an einem Samstagnachmittag im Terrarium von Artis in Amsterdam erzählte – Quinten beobachtete währenddessen eine reglose Schlange, die wie ein Ankertau zusammengerollt war –, meinte dieser, daß das seinem Sohn in der Schule sicher noch Probleme machen werde. Es liege auf der Hand, daß er schon jetzt mehr Genie habe als die Lehrer, und das sei früher bei ihm, Onno, ganz genauso gewesen.
Seit Quinten in Gegenwart von Onno sein erstes Wort gesprochen und zum ersten Mal gelacht hatte, schien es, als habe er tatsächlich schon früher sprechen können, nur eben keinen Anlaß dazu gesehen. Bereits nach einem halben Jahr war keine Rede mehr von einem Rückstand, vielmehr schien er seinem Alter eher voraus zu sein, und wenn er sich selbst meinte, sagte er nicht »Quinten« oder »Kuku«, sondern »ich«.
Onno nannte er »Papa«, Sophia »Oma« oder »Oma Sophia«, wenn ein Unterschied zu »Oma To« gemacht werden mußte, und zu Max sagte er »Max«. Aber er blieb schweigsamer als andere Kinder. Kleinkindergeplapper, tyrannische Befehle, Gequengel, wenn er etwas haben wollte, Geplapper über das, was er gerade gemacht hatte oder machen wollte – nichts von alledem. Für Spielkameraden hatte er wenig übrig, und Sophia tat ihm nicht eben einen Gefallen, wenn sie mit ihm zum Spielplatz oder ins Schwimmbad ging. Vor dem Schlafengehen ließ er sich ein Märchen gefallen, aber ansonsten hatte er genug an dem Schloß, in dem es viel zu erleben gab, und seit es ihm behagte zu sprechen, war er sogar bei Herrn Spier willkommen. Er langweilte sich nie. Stundenlang saß er in seinem Turmzimmer und schaute sich Bilder an – aber nicht etwa in Kinderbüchern, sondern vor allem in einem Buch, das er von Themaat hatte ausleihen und mit nach oben nehmen dürfen: Giuseppe Bibienas Architetture e prospettive. Als ob Quinten wüßte, was ›das achtzehnte Jahrhundert‹ und der ›Wiener Hof‹
waren, hatte Themaat ihm erzählt, daß das Buch in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts am Wiener Hof gedruckt worden sei. Vor allem die Radierungen von phantastischen Theaterdekorationen faszinierten ihn: grandios barocke, superperspektivische Räume mit Kolonnaden, Treppen, Karyatiden, und alles schwer überladen mit Ornamenten. Als wäre er gerne einmal darin herumgelaufen.
Als er vier Jahre alt war, wollte Sophia, daß er in den Kindergarten in Westerbork ging: das sei gut für die Entwicklung seiner Persönlichkeit, er werde sonst viel zu eigenbrötlerisch. Onno und Max hatten eine solche Einrichtung nie besucht – in den dreißiger Jahren war das noch nicht üblich – und sahen auch wenig Sinn darin, aber Sophia setzte ihren Kopf durch. Auf dem Weg zur Sternwarte setzte Max ihn am ersten Tag vor dem Kindergarten ab, und gleich am ersten Vormittag bearbeitete ein anderes Kind Quintens Kopf mit einem Steingutbecher. Quinten hatte jedoch nicht angefangen zu weinen, sondern seinen Angreifer nur mit einem derart verwunderten Blick angesehen, daß dieser in Tränen ausgebrochen war. Die Leiterin, die von der Attacke in der Puppenecke nichts mitbekommen hatte, hatte Quinten daraufh in getadelt, weil er dem Jungen etwas angetan hatte, sonst würde der ja wohl nicht so weinen. Quinten hatte geschwiegen. Als Max ihn abholte, hatte ihm die von Müttern und kreischenden Kindern umringte Leiterin erzählt, was sich ihrer Meinung nach zugetragen hatte. Sie wolle natürlich nicht behaupten, sagte sie, daß der Junge hinterhältig oder gemein sei, aber vielleicht sollte man ihn doch ein wenig im Auge behalten. Auf dem Rücksitz erzählte Quinten, was tatsächlich passiert war, und Max glaubte ihm; zu Hause entdeckte Sophia eine kleine Wunde unter seinem schwarzen Haar. Nach einem Telefonat mit Onno, das von Frau Siliakus vermittelt wurde, beschlossen sie, ihm den Kindergarten ab sofort zu ersparen.
»Du brauchst da nicht mehr hinzugehen«, sagte Max. »In Ordnung?«
Quinten nickte. Er stand an Max’ Schreibtisch, drehte langsam an dem kleinen Kompaß und sah auf den wackelnden Zeiger, der nicht an dem Kompaß befestigt zu sein schien, sondern am Zimmer.
»Mach dir nichts daraus«, sagte Sophia.
Aber es war etwas anderes, das ihn bedrückte. Er heftete seinen Blick auf sie und sagte:
»Alle Kinder wurden von Mamas abgeholt.«
Max und Sophia sahen sich an. Da war es. Plötzlich war die entscheidende Frage gestellt worden. Max wußte nicht gleich, was er sagen sollte, aber
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