Die Entdeckung des Himmels
Sophia kniete sich zu ihm, nahm ihn in den Arm und sagte:
»Ich bin die Mama von deiner Mama, Quinten. Deine Mama ist viel zu müde, um dich abzuholen. Sie liegt in einem ganz großen Haus bei ganz lieben Menschen im Bett und schläft, und sie kann nie mehr aufwachen, weil sie so schrecklich müde ist. Sie hört niemanden, und sie kann mit niemandem sprechen.«
»Auch nicht mit mir?«
»Auch nicht mit dir.«
»Auch nicht nur ganz kurz?«
»Auch nicht nur ganz kurz.«
»Wirklich nicht nur ganz ganz kurz?« Und als Sophia den Kopf schüttelte: »Auch nicht mit Papa und Tante Helga?«
»Mit niemandem, mein lieber Schatz.«
Nachdenklich verschloß er den Kompaß.
»Wie Dornröschen.«
»Ja. Genau wie Dornröschen.«
»Und was ist mit dem Prinzen?« fragte er und sah sie an.
Wie Max sah er, daß ihre Augen feucht geworden waren.
Max hatte eine solche Regung noch nie bei ihr bemerkt. Mit der Innenseite seiner Hand wischte Quinten Sophias Tränen ab und fragte nicht weiter. Aber Max ging zum Kaminsims und gab ihm das Bild von Ada und Onno.
»Das ist deine Mama, als sie noch wach war.«
Mit beiden Händen hielt Quinten das Foto fest und schaute das Gesicht in dem Viereck aus schwarzem Haar genau an.
»Schön.«
»Deshalb bist du auch so schön«, sagte Sophia.
Max erwartete, daß Quinten das Foto haben wollte, aber er gab es zurück und ging auf sein Zimmer. Als sie allein waren, hätte Max Sophia am liebsten umarmt.
»Das war zu erwarten«, sagte er. »Und was nun?«
»Das sollten wir mit Onno besprechen. Ich finde, daß wir nicht von uns aus darauf zurückkommen sollten. Was er nicht fragt, kann er wahrscheinlich auch nicht verarbeiten.«
Max nickte.
»Eines Tages wird er uns schon wieder ein Zeichen geben.«
Sophia wischte echte oder eingebildete Krümel von ihrem Schoß.
»Vor ein paar Wochen habe ich ihm das Märchen von Dornröschen vorgelesen, und erst als ich schon in der Mitte war, wurde mir klar, was ich da eigentlich vorlas, aber ich konnte nicht mehr zurück.«
»Und deshalb fühlen Sie sich schuldig?«
»Schuldig?« wiederholte sie und sah ihn an. »Weshalb sollte ich mich schuldig fühlen?«
Die Attacke im Kindergarten war mit Sicherheit durch Quintens engelhaftes Aussehen provoziert worden. Schon im vierten Lebensjahr hatte er seine zweiten Zähne, Theo Kern mußte für seine Quintenstudien eine neue Mappe anlegen. Zu einer Ausstellung war es jedoch noch nicht gekommen, vielleicht, weil er die Zeichnungen nicht hergeben wollte. Aber nicht jeder war so besitzergreifend. Trotz des Schildes Zutritt verboten, Art. 461 StGB am Tor mit den beiden Löwen kamen regelmäßig Autos mit neuvermählten Paaren vorgefahren, die sich mit dem Schloß im Hintergrund fotografieren ließen: sie im weißen langen Kleid, er im geliehenen Hochzeitsanzug und mit dem grauen, viel zu großen Hut in der Hand. Dem Fotografen war Quinten gleich aufgefallen, er klingelte und fragte Sophia, ob er eine Fotoserie von diesem bildhübschen Jungen machen dürfe – für Werbezwecke, was selbstverständlich gut bezahlt werde.
Daß Quinten nicht geweint hatte, als er auf den Kopf geschlagen wurde, wunderte Max und Sophia nicht. Eigentlich hatte er erst ein einziges Mal geweint. Während einer Hitzewelle im Juli hatte Sophia eines Morgens ein aufb lasbares, rundes Planschbecken aus weißem Plastik auf den Vorplatz gestellt; als sie die Luftpumpe nicht finden konnte, blies sie es selbst auf und ließ es mit dem Gartenschlauch halb voll Wasser laufen. Sie setzte Quinten hinein, rief Max zu, er solle ein Auge auf ihn haben, und ging zum Bauern, um Eier zu kaufen. Eine halbe Stunde später hörte Max ihn weinen. Den ganzen Sommer über hatte es schon eine Fliegenplage gegeben, aber jetzt waren die heißen Steine des Vorplatzes plötzlich bedeckt mit einem schwarzen, flimmernden Teppich, der in der heißen Sonne ein gräßliches Singen wie von Hunderten von Celli hervorbrachte. Rundum von dieser Höllenbrut umgeben, stand Quinten im Wasser wie auf einer Insel, nackt, die Hände vor den Augen, wimmernd und bebend vor Angst.
Dieser Anblick brachte Max augenblicklich in eine Raserei, die er so von sich noch nicht gekannt hatte; ehe er sich’s versah, rannte er in der Badehose und barfuß durch die aufwirbelnde, surrende Masse, wobei er die Fliegen zu Hunderten zertrat, riß Quinten im Lauf aus dem Wasser und brachte ihn auf der anderen Seite des Schloßgrabens im Schatten unter der braunen Eiche in Sicherheit.
Um seinen
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