Die Entdeckung des Himmels
fünften Geburtstag herum – 1973, es war das Jahr, in dem Max und Onno vierzig und Sophia fünfzig wurden – hatte Quinten sein Territorium auf das ganze Forstrevier ausgeweitet. Er stattete der ehemaligen Remise, wo Theo Kern seine großen Skulpturen bearbeitete, täglich einen Besuch ab. In dem hohen Raum voller Steine, Schutt und Werkzeug, Gipsmodelle, Tische und Skizzen, zwischen ausgedientem Mobiliar und einer ständig gurgelnden Kaffeemaschine, wo alles ausschließlich auf Arbeit ausgerichtet war, fühlte er sich noch wohler als in Kerns Wohnung im Schloß, die immer auch Selmas war. Stundenlang saß er auf einem Steinklotz und sah zu, wie Kern aus den Steinquadern üppige Frauengestalten oder Ornamente für öffentliche Gebäude hervorholte und wie ein Fakir barfuß durch die scharfen Splitter ging. Und ab und zu geschah etwas Beunruhigendes mit ihm, er hielt plötzlich inne, kniff die Augen halb zu, entblößte die Zähne bis zum Zahnfleisch, hob die Hände in die Luft und schüttelte sich, als müßte er sich unter größter Anstrengung gegen etwas wehren. Für kurze Zeit verwandelte sich der sanftmütige Kauz plötzlich in ein ungebärdiges Ungeheuer, um im nächsten Augenblick wieder völlig entspannt dreinzuschau en, als sei nichts geschehen. Quinten sah, daß er dann nicht mehr wußte, wie merkwürdig er sich gerade eben noch verhalten hatte.
Nach Kerns Worten war die Bildhauerei keine Kunst: das könne jeder, man brauche ja nur den überflüssigen Stein wegzuhauen.
»Das behauptete Michelangelo wenigstens.«
»Wer ist Michelangelo?«
»So einer wie ich, aber ein bißchen anders. Der hat das da gemacht«, sagte er und zeigte auf ein Foto, das mit einem Reißnagel an einen Stützbalken geheftet war: Es war das Bild eines Mannes mit einem wüsten Gesicht, einem langen Bart und zwei kleinen Hörnern auf dem Kopf.
»Ist das der Teufel?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Na, wegen der Hörner natürlich.«
»Ja, die verstehe ich auch nicht ganz. Es ist auf alle Fälle Moses. Jemand aus der Bibel.«
»Was ist die Bibel?«
Kerns Hammer hielt inne.
»Weißt du das denn nicht? Hat dein Vater dir nie davon erzählt? Ein ganz dickes Buch mit Geschichten, und viele Leute glauben, daß sie wirklich passiert sind.«
Quinten erinnerte sich an das riesige Buch, das bei seinem Opa in Den Haag auf einem Pult lag und aus dem er manchmal vorlas. Das war sie, die Bibel.
Mit einem Seufzer sah Kern auf das Foto.
»So etwas könnte ich nicht, Kuku. Ich bekomme meine Aufträge von der Gemeinde Assen, aber er hat sie vom Papst bekommen. Rangunterschiede müssen nun mal sein. Ich mag Farben nicht so gerne, aber er hat auch sehr schön gemalt. Er hat zum Beispiel die Sixtinische Kapelle ausgemalt – wirklich, gar nicht übel. Das ist im Vatikan: die Hauskapelle des Papstes.«
»Wer ist der Papst?«
»Das Oberhaupt der Katholiken. Das sind Menschen, die an Gott glauben. Und jetzt fragst du bestimmt, wer Gott ist?«
»Ja«, sagte Quinten. Er saß auf einem dunkelblauen Granitblock, hatte die Hände zwischen die Oberschenkel geschoben und nickte dreimal.
»Den gibt es nicht, aber sehr viele Leute glauben, daß er die Welt erschaffen hat.«
»Max sagt, daß die Welt mit einem Knall da war.«
»Dann wird das auch stimmen. In der Sixtinischen Kapelle kann man Gott sehen: Er schwebt in der Luft und hat einen Bart, genau wie Moses.«
»Und du.«
»Aber seiner ist nicht so schön weiß wie meiner. Wenn du größer bist, mußt du dir das in Rom einmal anschauen. Da gibt es übrigens noch viel mehr zu sehen.«
»Wie kann man denn jemanden malen, den es nicht gibt?«
»Indem man ihn sich ausdenkt. Oder man benutzt einen Trick. Michelangelo hat einfach irgendeinen alten Kerl gemalt, der jeden Tag in seiner Straße Pizza verkaufte; er ließ ihn einfach in der Luft schweben, und schon meinte jeder, daß das Gott sei. Wenn ich für die Gemeinde Assen ein Bild von Gott machen müßte, dann könnte ich einfach meinen Kopf nachmachen.«
»Trotzdem«, sagte Quinten, »könnte man ein Bild von Gott machen, auch wenn es ihn nicht gibt.«
»Dann erzähl mir mal, wie das gehen sollte.«
»Ganz einfach, dann nimmst du einen großen Marmorstein und hackst so lange darauf herum, bis nichts mehr übrig ist.«
Perplex sah Kern Quinten an und brach dann in lautes Gelächter aus. »Und das bringe ich dann nach Assen. Hier ist es, würde ich sagen. Gott! Seht ihr? Nichts! Meinst du, daß die das begreifen würden? Daß die mich
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