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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Hinsicht mehr unmittelbare Macht als ein Staatssekretär, der im Schatten seines Ministers stand. In der Kommunalpolitik hatte er direkten Kontakt zu den Bürgern, in der Landespolitik würde das nicht mehr der Fall sein. Aber genau diese Macht erfüllte ihn zuweilen mit Widerwillen, als hätte er eine Niederlage erlitten, sie war notwendig, damit die Gesellschaft funktionierte, hatte aber zugleich auch etwas unverkennbar Proletenhaftes.
    Außerdem war es von Vorteil, daß er als Referent in Amsterdam arbeiten konnte, und nicht in dieser miefigen Beamtenhöhle Den Haag, aus der er damals geflüchtet war und wohin er jetzt wieder jeden Tag würde fahren müssen – für Amsterdam war es ein Segen, daß der Regierungssitz der Niederlande nicht zugleich auch Hauptstadt war. Aber mit einiger Beschämung wußte er auch sofort, warum er ja gesagt hatte: um seinem Vater zu gefallen und seinen ältesten Bruder neidisch zu machen. Für seinen Bruder wäre es sofort beschlossene Sache, daß er, Onno, eines Tages dann auch noch Minister werden würde, und das war der höchste Status politischer Seligkeit.
    Während er immer noch auf das Telefon sah, wunderte er sich plötzlich darüber, daß die Äußerung des kurzen Sprachlautes nein nichts in seinem Leben geändert hätte, während das Aussprechen des vielleicht noch kürzeren Sprachlautes ja sehr viel geändert hatte – und das, obwohl die Spektogramme dieser beiden Laute nur von erfahrenen Phonetikern bestimmt werden konnten. Und wenn er ken gesagt hätte, hätte sich genauso wenig geändert, obwohl das ebenfalls ja bedeutete, allerdings auf hebräisch. Es war alles selbstverständlich, tägliches Brot, das Abc, aber plötzlich beunruhigte es ihn, und auch diese Beunruhigung hatte etwas Beunruhigendes.
    Für Besuche auf Groot Rechteren hatte er nach seinem Ja noch weniger Zeit: Quinten sah ihn von da an öfter im Fernsehen denn leibhaftig.
    Er ging inzwischen in die erste Klasse der Grundschule von Westerbork, und als Onno einmal vorbeikam – in einem großen, dunkelblauen Dienstwagen, nachdem er in Leeuwarden ein technologisches Institut eröffnet hatte –, erzählte ihm Sophia stolz, daß er gerade lesen gelernt hatte.
    »Dann laß Papa mal hörten, was du kannst«, sagte er und gab ihm das Lesebuch.
    »Pim ist im Wald«, las Quinten, ohne den Zeigefinger zu Hilfe zu nehmen. Aber ehe Onno ihn loben konnte, sah er auf die Zeitung, die am Boden lag, und las die Überschriftvor: »Kambodschanischer Präsident Lon Nol verlängert Sondervollmachten.« Als alle verblüfftschwiegen, sagte er: »Das habe ich nämlich gar nicht in der Schule gelernt. Das kann ich schon lange.«
    Max war der erste, der etwas sagte.
    »Wer hat es dir denn beigebracht?«
    »Herr Spier.«
    Er begriff nicht, was daran nun so besonderes war. In Herrn Spiers sauber aufgeräumtem Arbeitszimmer mit dem schrägen Zeichentisch, wo das Fenster eine wunderbare Aussicht auf den Wald hinter dem Schloß bot, waren dessen neue Buchstabenentwürfe in alphabetischer Reihenfolge an die Wand geheftet: sechsundzwanzig große Blätter kariertes Papier, auf denen jeweils ein Groß- und ein Kleinbuchstabe zu sehen waren, die er »Versal« und »Minuskel« nannte. Herr Spier – der, auch wenn er arbeitete, immer tadellos gekleidet war und Krawatte, Weste und Stecktuch trug – hatte ihm nicht nur alles über »Korpus«, »Oberschraffe«, »Fahne« und »Schwanz« erzählt, sondern ihn mehrere Tage hintereinander auch bei der Hand genommen und Schritt für Schritt an der Wand entlanggeführt und Buchstabe um Buchstabe vorgesprochen, die er dann nachsprechen mußte. So war das ja wohl auch im Nu zu lernen! Beim Q hatte Herr Spier immer bedeutungsvoll den Zeigefinger gehoben . Judith hatte er seine neuen Buchstaben genannt, nach seiner Frau. Er entwarf auch Briefmarken und Banknoten, aber das geschah nur in der Druckerei in Haarlem, unter Polizeiaufsicht, denn das war natürlich streng geheim.
    Innerlich habe er immer ein bißchen lachen müssen, sagte er, weil er im Krieg, als er sich habe verstecken müssen, weil Hitler ihn habe totmachen wollen, tatsächlich alles mögliche gefälscht habe: deutsche Stempel, Personalausweise.
    »Wer ist Hitler?«
    »Wie schön, daß es wieder Menschen gibt, die das nicht wissen. Hitler war der Boß der Deutschen, der alle Juden totmachen wollte.«
    »Warum?«
    »Weil er Angst vor ihnen hatte.«
    »Was sind Juden?«
    »Ja, das fragen sich eine Menge Leute schon lange, Q. Q, und die

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