Die Entdeckung des Himmels
Nichts klauen, hörst du!«
An der Wand hingen bunte Karten, die über die Verbreitung der Trichterbecherkultur in Drenthe Auskunft gaben, und in den zwei Vitrinenreihen waren Verdonkschots prähistorische Funde ausgestellt: Dutzende steinerner Speerspitzen, die fünftausend Jahre alt waren, Faustkeile, verrostete Haarnadeln, Tonscherben und halb vergammelte Lederfetzen. Es waren nicht die Stücke an sich, die Quinten fesselten, sondern die Atmosphäre in dem hellen Raum: die reine Stille, in der all die schmutzigen alten Dinge, die tief in die Erde gehörten, jetzt im Licht dalagen wie die Eingeweide eines Fisches beim Fischhändler im Dorf. Es war geheimnisvoll, weil es eigentlich nicht sein durfte. Aber das Merkwürdigste war die Vorstellung, daß all diese Dinge auch dann noch hier unter Glas lagen, wenn niemand sie anschaute, also auch nachts, wenn es dunkel war und er selbst im Bett lag. Und das war natürlich nicht möglich, denn dann würden sie ja schreien vor Angst, und das würde er in seinem Bett hören; aber er hörte nachts nie Geschrei aus der Orangerie. Nur manchmal den Ruf einer Eule. Es gab sie also nur, wenn er sie sah.
Draußen kletterte er jedesmal wieder auf den Findling, der dort ebenfalls vor Zeiten nach oben gekommen war. Er setzte sich hin und wartete, bis Verdonkschots Ziegenbock Gijs mit schiefen Sprüngen auf ihn zu kam. Wenn es nach Gijs gegangen wäre, hätte er ihm bestimmt gerne einen Stoß mit den Hörnern versetzt, aber dazu war der Strick leider nicht lang genug. Quinten fragte ihn:
»Warum bist du bloß immer so böse zu mir?« Er streckte die Hand aus, um ihm über den Kopf zu streicheln, aber das wurde mit einer brüsken Bewegung abgewehrt. »Ich habe dir doch nichts getan? Ich finde dich doch nett. Ich finde dich zum Beispiel viel netter als Arendje, der nimmt die Leute auch manchmal Kopf voran auf die Hörner. Ich finde dich ungefähr so nett wie Max, aber nicht so nett wie Papa. Papa ist mit Abstand der netteste von allen. Wenn wir Spazierengehen, erzählt er mir immer alles mögliche. Er spricht alle Sprachen und kann Geheimschrift lesen. Weißt du, warum ich nicht bei ihm wohnen kann? Weil er so beschäftigt damit ist, der Chef zu sein. Darum kommt er auch fast nie. Er ist der Chef von bestimmt einer Millionmillion Menschen. Tante Helga wohnt auch nicht bei ihm. Ich war noch nie bei ihm zu Hause, aber er wohnt in einem Schloß in Amsterdam. Wenn ich groß bin, werde ich ihn besuchen. Dann darfst du auch mit. Und weißt du, wen ich am nettesten finde? Mama. Mama ist todmüde, sagt Oma. Mama ist eingeschlafen. Weißt du, warum sie so müde geworden ist? Das weißt du bestimmt nicht. Aber ich weiß es. Soll ich es dir sagen? Aber das darfst du keinem erzählen, hörst du, denn es ist ein Geheimnis. Versprichst du mir das, Gijs? Das kommt daher, weil sie immer allen aus der goldenen Kutsche hat zuwinken müssen.«
40
Die Wörterwelt
Onno war inzwischen immer mehr damit beschäftigt, der Chef zu sein. Eines Nachts, nach einem Besuch bei Helga und mehreren Cola-Rum auf dem Heimweg, wurde er vom Beauftragten für die Regierungsbildung angerufen und gefragt, ob er Staatssekretär für Bildung und Wissenschaft werden wolle.
»Seit wann ist das die Sache des Beauftragten?«
»Ich rufe im Namen deines Ministers an.«
»Kann ich mir das kurz überlegen?«
»Nein.«
»Auch nicht fünf Minuten?«
»Nein. Der ganze Kram muß innerhalb von vierundzwanzig Stunden vorzeigbar präsentiert werden, dieses Hin und Her hat jetzt schon mehr als fünf Monate gedauert. Das Volk murrt.«
»Und wie komme ich zu dieser Ehre, Janus?«
»Indirekt durch die Anregung eines Freundes von dir, eines bestimmten Kneipenwirts in deiner Stadt: dem neuen Wohnungsbauminister.«
»Und mein eigener Minister? Weiß er eigentlich, daß ich der Wissenschaft außerordentlich übel gesonnen bin?«
»Ja, Onno, ich bin überzeugt davon, daß du das Kabinett in Schwierigkeiten bringen wirst. Also entscheide dich, ich habe auch noch etwas anderes zu tun. Ja oder nein?«
»Wenn es im Interesse des Landes ist, steht alles andere zurück. Ja.«
»Schön. Morgen früh um zehn Uhr erwarte ich dich nüchtern in Den Haag im Ministerium. Wir machen etwas Schönes daraus. Gute Nacht.«
Damit hatte sich plötzlich alles geändert. Er war nicht unzufrieden mit seinem Posten als Referent, den er nunmehr seit vier Jahren bekleidete; obwohl die Obrigkeit von Jahr zu Jahr weniger zu sagen hatte, hatte er in mancher
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