Die Entdeckung des Himmels
nagen.«
»Warum? Was gibt es denn Schöneres, als etwas mit Worten zu tun ? Ein Schriftsteller tut nichts anderes. Oder denk an Gott.«
»Ja«, sagte Onno, »laß uns an Gott denken. Das kann nie schaden. ›Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.‹«
»Ist das aus der Bibel?« fragte Quinten.
»Und wie! Nach Johannes war der Schöpfer also zugleich das Schöpfungswort, und das wiederum zugleich auch die Schöpfung:
›Er spricht, und es ist da.‹ Gott, Wort, Welt – es ist alles identisch. Etwas Politischeres als die christliche Theologie gibt es nicht.«
»Man könnte es auch umdrehen und behaupten, daß die Politik eine religiöse Angelegenheit sei«, sagte Max.
»Wem sagst du das? ›Die Obrigkeit ist die mit der Macht des Schwertes bekleidete Dienerin Gottes‹: das habe ich mit der Muttermilch eingeflößt bekommen. Nur von der sprachphilosophischen Seite her haben die Christenhunde das nie betrachtet. Das gilt übrigens nicht nur für die Politik. Als ich an deinem Geburtstag auf dem Standesamt ja sagte, war das auch eher eine Tat als eine Mitteilung, oder als ich dieses wunderliche Wesen hier ›Quinten‹ nannte. Aber ich bin nicht für Gott gemacht, wie du vielleicht. Irgend etwas stimmt nicht mit diesem verbalen Tun-ohne-etwas-zu-tun. Was mich daran stört, ist eine gewisse – wie soll ich sagen – unmoralische Dimension.«
»Unmoralische Dimension –«, wiederholte Max, »das hört sich nicht gut an.« Er mußte sich dazu zwingen, keinen Blick auf Sophia zu werfen, weil er auf einmal das Gefühl hatte, daß Onno in Wirklichkeit von seinem heimlichen Verhältnis mit ihr sprach, aber das war natürlich Unsinn.
»Kaiser Napoleon hat Paris verschönert«, sagte Onno plötzlich und schwieg. Max nickte und wartete ab, was nun kommen würde. »König Salomo hat den ersten Tempel in Jerusalem gebaut.«
»Bestimmt auch aus der Bibel«, sagte Quinten.
»Alles ist immer aus der Bibel.«
»Und was ist mit Napoleon und König Salomo?« fragte Max.
»König Salomo hat nie im Leben auch nur einen Stein auf den anderen gelegt. Er hat den Tempel also nicht gebaut. Er hat seinem Architekten den Auftrag gegeben, einen Tempel zu bauen, aber auch der hat ihn nicht gebaut. Er wurde von anonymen Arbeitern erbaut. Weshalb darf derjenige, der am wenigsten daran getan hat, die Lorbeeren für sich in Anspruch nehmen?«
»Aufgrund der Tatsache, daß er ohne ihn nicht gebaut worden wäre.«
»Aber ohne diesen Architekten? Und ohne die Arbeiter?
Und dennoch ist Salomo der eigentliche Erbauer des Tempels – aufgrund seiner Macht und einer Tat von drei Wörtern: ›Baue einen Tempel!‹ Oder besser gesagt, von zweien: ›Tiwne migdásch!‹ Bauen bedeutet offenbar ›bauen sagen‹. Ist das nicht ein Unding, daß es so läuft?«
»Genau!« sagte Max, der sich plötzlich auf ganz andere Weise angesprochen fühlte. »Nur: der Bau eines Tempels ist immerhin noch eine schöne Sache, aber nehmen wir einen Befehl zu einem Verbrechen.« Er wandte sich zu Sophia. »Erzählen Sie einmal, was Sie gestern gehört haben – über diese Mütze.«
Sophia sah von ihrem Schnittmuster auf, das sie auf ein Stück Stoff heftete. Max und Onno bemerkten, wie sie sich kurz konzentrieren mußte: Sie hörte diesen Gesprächen nie wirklich zu, vermutlich hielt sie das eher für etwas unreifen Unsinn.
Gestern hatte sie Herrn Roskam, dem Hausmeister, eine Tasse Kaffee angeboten, und der hatte ihr von seinem Vater erzählt, der beim Vater des Barons Gärtner gewesen war. Als Herr Roskam so alt war wie Quinten, war er eines Tages mit seinem Vater zur Orangerie gegangen, als diese noch als Wintergarten genutzt wurde. Auf der Schwelle hatte der alte Gevers gestanden, auch er mit seinem Sohn, der damals ebenfalls etwa sechs Jahre alt war, und hatte einen Blick auf die Mütze von Herrn Roskams Vater geworfen. »Hol mal eine Schaufel, mein Freund.« Sein Vater hatte eine Schaufel geholt. »Grab ein Loch.« Sein Vater hatte ein Loch gegraben. »Wirf deine Mütze da hinein. Dieses schmutzige Ding muß mir aus den Augen.« Der alte Roskam hatte seine Mütze begraben und mit den Holzschuhen die Erde festgestampft, während die beiden Jungen zusahen. Nach fünfzig Jahren bebte der junge Roskam immer noch, als er es erzählte. Und sein Vater hatte gedacht, daß er dann wohl eine neue Mütze bekommen würde, aber das war nicht der Fall.
»Herr Roskam?« fragte Quinten, der mit offenem Mund zugehört
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