Die Entdeckung des Himmels
Juden selbst am meisten. Vielleicht hatte er deswegen Angst. Aber es ist ihm nicht gelungen.«
»Sind Sie auch ein Jude?«
»Und ob.«
»Ich habe aber trotzdem keine Angst vor Ihnen«, und als Herr Spier lächelte: »Bin ich Jude?«
»Im Gegenteil, soweit ich weiß.«
»Im Gegenteil?«
»Das war ein Scherz. Juden scherzen öfter, wenn sie über Juden sprechen.«
»Was ist denn mit dir los, Quinten?« fragte Sophia. »Woran denkst du?«
»Ach, nichts.«
Max konnte es noch immer nicht fassen.
»Warum hast du uns nie gesagt, daß du lesen kannst?«
Quinten zuckte mit den Schultern und schwieg.
»So stellt uns dieser Junge jeden Tag wieder vor neue Rätsel«, sagte Sophia.
»Erblich belastet mit großer Bildung«, nickte Onno. »Soll ich ihn noch mal testen?« Und zu Quinten: »Fällt dir etwas an diesem Namen Lon Nol auf?«
»Es steht ein Spiegel dazwischen«, sagte Quinten sofort.
»Da traut man doch seinen Ohren nicht!« rief Max – mit doppelter Freude: Nun bestand wohl kein Zweifel mehr, wer hier die Erbanlagen geliefert hatte!
»Wie bei …?« fragte Onno weiter.
Quinten überlegte kurz, wußte es aber nicht.
»Mir«, sagte Onno. Er wollte auch »Ada« sagen, tat es aber nicht; zudem stimmte es auch nicht ganz: Das d in der Mitte war in sich nicht symmetrisch.
»Natürlich!« lachte Quinten und deckte mit den Zeigefingern die beiden ›1‹ ab. »Du steckst da drin!«
»Ich stecke in Lon Nol«, wiederholte Onno. »Wenn mein Parteichef das hört, ist meine ganze Karriere zerstört.«
»Das reimt sich«, sagte Quinten, »also ist es wahr.«
Max lachte.
»Endlich jemand, der die Poesie ernst nimmt.«
»Vor einiger Zeit«, erzählte Onno, »bin ich übrigens selbst auch gebeten worden vorzulesen. Vom GS.«
»Was ist der GS?« fragte Sophia.
» Wer ist der GS. Der Generalsekretär, der Spitzenbeamte des Ministeriums, der alle Politiker überlebt, der Vertreter der Ewigkeit.«
»Und was solltest du vorlesen?« fragte Max.
»Absolut alles. Ich bin natürlich nie auf die Idee gekommen, im Parlament etwas vom Blatt abzulesen wie die geschätzten Abgeordneten, ich habe meine zerschmetternden Wahrheiten immer frei von der Leber weg geäußert. Aber er sagte, daß das böses Blut mache, daß ich sie auf diese Weise mit ihrer eigenen Unbeholfenheit konfrontiere und sie sich dafür rächen würden. Redetalent sei nach seiner Meinung in der niederländischen Politik nicht erwünscht – oder was meinst du? Seitdem lasse ich mich dazu herab, irgendwelche Unterlagen vor mich hinzulegen, und seien es leere Seiten, so daß man nun den Eindruck hat, ich lese ab. Ist das nicht zum Aus-dem-Fenster-Springen?« Und als Max lachte: »Ja, du hast gut lachen, aber ich versinke immer tiefer im Morast der Wurstelei. In der Politik dreht sich alles um Wörter, es ist eine widerliche Wörterwelt.«
»Na«, sagte Max, »in der Wörterwelt scheinst du mir nicht gerade am falschen Platz zu sein.«
»Aber nicht ausgerechnet auf diese Weise. Als ich in grauer Vorzeit noch Texte entzifferte, waren das Taten , die von diesen Texten losgelöst waren, selbst wenn ich nur das eine Wort durch ein anderes ersetzte. Kannst du mir noch folgen?«
»Wenn dir schon lange niemand mehr folgen kann, Onno, ich werde dir immer folgen.«
»Aber in der Politik sind die Worte die Taten, und das ist etwas ganz anderes. Du hockst in Westerbork und lauschst dem Rauschen aus der Tiefe des Weltalls, aber ich höre von morgens früh bis abends spät Wörter: im Ministerium, im Parlament, im Kaffeezimmer, im Parteibüro, bei Kommissionssitzungen, am Telefon, im Auto, auf Cocktailpartys, bei Diners und Empfängen und Arbeitsbesuchen, von Leuten, die mir etwas ins Ohr flüstern, mir einen Zettel mit Informationen zustecken, und sei es, daß nur Nimm dich vor dem Kerl in acht draufsteht, oder irgend so etwas. Und ich selbst sage auch ständig etwas, zu diesem und jenem, bei solchen und anderen Gelegenheiten, bei Pressekonferenzen oder in Interviews in der Zeitung und im Fernsehen. Ich versuche zu überzeugen, Menschen zu beeinflussen. Das ist die Politik, die Macht, es ist alles verbal, ein ununterbrochener Schneesturm von Wörtern.
Aber es ist kein normales Sprechen, nein, es sind Akte der Äußerung. Es ist Handeln, man tut etwas, ohne etwas zu tun. Es ist natürlich wunderbar, wenn man Dinge ändern und verbessern kann, ich will mich gar nicht beklagen, aber das Bewußtsein, daß es auf diese Weise geschieht, fängt langsam an, an mir zu
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