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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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der Zeitung.«
    Quinten betrachtete die weißen Konturen von Adas Körper unter dem Laken.
    »War ich damals noch in diesem Bauch?«
    »Ja.«
    Nachdenklich und mit den Händen auf den Knien wiegte Quinten den Oberkörper vor und zurück.
    »Aber wenn ich damals noch in dem Bauch war, war ich also eigentlich doch nicht in Mamas Bauch?«
    Onno machte eine hilflose Geste und wußte nicht, was er sagen sollte. Der Widerspruch machte alles wahr, so daß letztendlich nichts mehr wahr war.
    »Versuche nicht, es zu verstehen, Quinten. Es ist nicht zu verstehen.«
    Obwohl in dem Zimmer alles so normal aussah, war für Quinten vieles um ihn herum voller Rätsel, und er selbst war ein Teil davon. Ihm war, als verberge sich in dem Körper ein unermeßlicher Raum.
    »Darf ich sie berühren?«
    »Natürlich.«
    Er legte seine Hände auf die ihren und spürte, zum ersten Mal seit seiner Geburt, ihre Wärme. Spürte sie die seine wirklich nicht? Er musterte ihr Gesicht, aber es blieb so reglos wie irgendeines auf den Bildern in Kerns Atelier.
    »Ich möchte so gerne ihre Augen sehen, Papa.« Ihre Augen!
    Onno erhob sich verwirrt. Er hatte ihre Augen seit acht Jahren nicht mehr gesehen! Sollte er eine Schwester rufen, oder konnte er selbst ein Augenlid heben? Mit einem Gefühl, als ob es nicht richtig war, was er tat, legte er die Spitze seines Mittelfingers auf ein Augenlid und schob es vorsichtig hoch. Zusammen sahen sie in das tiefb raune, fast schwarze Auge, das – wie das Auge am Himmel während einer totalen Sonnenfinsternis – nichts sah.

    An diesem Abend konnte Quinten schon beim Essen kaum noch die Augen offenhalten, ging gleich danach ins Bett und fiel in einen Traum, der ihn nicht mehr verlassen würde.
    Alles ist plötzlich zugebaut: Das All hat sich in einen einzigen großen architektonischen Komplex ohne Anfang und ohne Ende verwandelt, nirgends ist ein lebendes Wesen zu sehen. Ganz allein, aber ohne ein Gefühl von Einsamkeit irrt er durch eine endlose Flucht von Sälen, Kreuzgängen, Treppen, Galerien, Nischen, Säulen, Emporen, Portalen und Gewölben, die sich nach allen Seiten hin öffnen, vorbei an pompösen, mit Bildern und Ornamenten überladenen Giebeln, die sich als Innenwände entpuppen, durch Keller, die zugleich auch Dachböden sind, über Dächer, die auch Fundamente sind. Da es kein Innen und kein Außen gibt, kann von nirgendwoher Licht eindringen, aber obwohl nirgends Lampen brennen, ist es nicht dunkel. Und obwohl er niemandem begegnet und es auch nicht klar ist, woher er kommt oder wohin er geht, erfüllt ihn der Streifzug durch das dämmrige Weltgebäude mit einem Gefühl der Glückseligkeit: All dieses Gemauerte, Verfugte, Aufeinandergestapelte, Fortwuchernde umfängt ihn und hüllt ihn ein wie ein Bad in warmem Honig. Die Stille ist vollkommen, nur ab und zu ist ein Rauschen zu spüren, das sich wie der Flügelschlag eines großen Vogels anfühlt. Plötzlich steht er vor einem geschlossenen, zweiflügeligen Portal aus uraltem Holz, die Türflügel sind rautenförmig mit Eisenstäben beschlagen und mit einem schweren, verrosteten Hängeschloß von der Größe eines Laib Brotes verriegelt. Der bedrohliche Anblick dieses Schlosses erfüllt ihn mit Entsetzen.
    Es kommt ihm vor, als ob ihn das Portal ansehen würde, und im gleichen Augenblick hört er eine heisere Stimme sagen: Die Mitte der Welt. Die Worte klingen gelassen, wie wenn jemand sagen würde: »Schönes Wetter heute«, und doch überschwemmen sie ihn mit einer so schwefelsauren Todesangst, daß es nur noch ein Mittel gibt, sein Leben zu retten: aufwachen Zitternd und schweißgebadet schlug er die Augen auf, aber der Schrecken wich nicht von ihm, er setzte sich auf und wußte nicht, wo er war, die vollkommene Finsternis umhüllte ihn, als ob das All jetzt nichts als nur ihn enthielte. Er streckte die Hand aus und fühlte eine Wand, atemlos stieg er aus dem Bett, tastete nach der Tür, aber dahinter war es ebenso dunkel und still; ratlos machte er einige Schritte, strich mit der Innenseite seiner Hand über die Wand, stieß irgendwo an, betastete den Gegenstand, ohne ihn zu erkennen, ließ ihn los und drehte sich um die eigene Achse. Wo war er? Wieder machte er einige Schritte, stieß mit den Zehen an eine Schwelle und blieb mit weit aufgerissenen Augen stehen. Plötzlich, ohne es zu wollen, gab er einen lauten Schrei von sich. Gleich darauf hörte er entfernt Sophias Stimme: »Quinten! Was ist los? Hast du schlecht geträumt? Warte, ich

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