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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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komme.«

    Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, erschien ein Lichtstreifen unter der Schwelle. Max verschränkte die Hände unter dem Kopf und starrte im Dunkeln an die Decke. Das war das Ende. Es konnte nicht ausbleiben, daß eines Nachts so etwas passieren würde: da war es nun. Sie würde ab jetzt nicht mehr in seinem Bett erscheinen. An sich gab es dafür keinen Grund, denn warum sollte eine Großmutter kein Verhältnis mit dem Freund ihres Schwiegersohnes haben? Aber Quinten sollte es nicht wissen, weil er es tagsüber vielleicht einmal zur Sprache bringen könnte, und das war natürlich nicht auszudenken.
    Er horchte auf die Stimmen in Sophias Schlafzimmer. Quinten lag nun in ihrem Bett. Eine große Gelassenheit überkam ihn. Eigentlich hatte er es schon viel früher erwartet. Er war jetzt fast zweiundvierzig, sie zweiundfünfzig: Sieben Jahre hatte es gedauert, eine lange Zeit. Ihre Beziehung war ein Mysterium, ein Rätsel gewesen, eine völlig neue Form des Zusammenlebens neben der klassischen Familie aus Vater, Mutter und Kind, ohne daß das Familiengefühl verlorengegangen war. Als einziger auf der Welt war er tagsüber Oberhaupt einer Familie ohne Streit gewesen, die aus dem Kind seines Freundes und dessen Schwiegermutter bestanden hatte, mit der ihn keinerlei sexuelle Beziehung verband, aber deren Liebhaber er nachts wurde. Je nach dem Stand der Sonne war jeder ein anderer – mit Ausnahme des Kindes, das einfach das Kind seines Freundes blieb, auch wenn er sogar das lange Zeit angezweifelt hatte. »Für dich ist alles immer etwas anderes«, hatte Onno ihm einmal gesagt. Nichts in seinem Leben war, was es zu sein schien. Sogar daß er »Sternenkundiger« war, bedeutete für ihn etwas anderes, seit er in Westerbork arbeitete.
    Wie sollte es jetzt weitergehen? Die Grundlage für sein Verhältnis mit Sophia war zerstört, aber die Aufgabe, die er auf sich genommen hatte, war dieselbe geblieben: Es war ausgeschlossen zu gehen, solange Quinten noch zu Hause war, und das konnte noch zehn Jahre dauern. Dann würde er zweiundfünfzig sein.

42
Die Burg
    Auch für Onno kam wieder der Augenblick, in dem plötzlich alles anders wurde. Im März 1977 scheiterte das Kabinett, und es gab Neuwahlen, aus denen seine Partei als großer Sieger hervorging, was bedeutete, daß er als Kandidat für ein Ministeramt gehandelt wurde. Aber am Ende der langwierigsten politischen Geburtswehen einer Regierung, die die Niederlande je erlebt hatten und die sich neun Monate lang hinzogen, koalierten die Christdemokraten dann doch statt mit den Sozialisten mit den Konservativen, und von einem Tag auf den anderen war er arbeitslos. Nachdem er im Ministerium seinem Nachfolger die Amtsgeschäfte übergeben und eine Auszeichnung in Empfang genommen hatte, bot man ihm an, ihn noch einmal im Dienstwagen nach Hause zu fahren, aber er lehnte dankend ab. »Anständige Leute fahren mit dem Zug«, sagte er mit beleidigender Würde. Als er jedoch an diesem kalten Winternachmittag auf der Straße stand, erwies sich das als gar nicht so einfach, denn seit er sein politisches Amt bekleidete, hatte er fast nie Geld einstecken. Der Pförtner war bereit, ihm fünfundzwanzig Gulden zu borgen, und in der Straßenbahn auf dem Weg zum Bahnhof ertappte er sich dabei, daß er vor sich hin pfiff. Er war frei! Weg aus Den Haag!
    Adieu, ihr Weiher, Alleen, Kanzleien, Cocktailpartys, blaugestreifte Oberhemden und unbewegte Mienen!
    Als er in Amsterdam aus dem Bahnhof trat, war es bereits dunkel. Pfeifend tauchte er in die geschäftige, hellerleuchtete Stadt, und zum ersten Mal seit Jahren erlebte er den Alltag wieder ohne Hintergedanken und frei von politischen Strategien – als würde nach einer Feier das Fenster aufgemacht und frische Luft strömte herein. Weihnachten stand vor der Tür, und die Straßen und Geschäfte waren voller Leben, in den Cafés wimmelte es, Soldaten der Heilsarmee gruppierten sich auf dem Bürgersteig singend um eine Sammelbüchse, ein Mädchen spielte Gitarre, ein Mann lehnte sich aus dem Autofenster und beschimpfte einen Radfahrer. Alles war, wie es war, lebendig, laut, chaotisch, und zugleich hatte es etwas Ewiges, etwas, das im Mittelalter genauso gewesen sein mußte, oder im kaiserlichen Rom, oder im heutigen Kairo, oder noch viel weiter weg vor noch viel längerer Zeit. Es hatte Zeiten gegeben, da war es anders, wie während der deutschen Besatzung; aber da das Gute aus unerklärlichen Gründen zu guter Letzt doch immer

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