Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
Premierministers spannte, spürte er in sich einen Widerwillen aufsteigen, nicht, weil er ihm etwas angetan hatte, denn darin war sein Gegner ebenfalls Meister, sondern weil es wieder nur die Worte waren, die die Tat verrichteten. Für ihn als kontrollierenden Volksvertreter ohne Macht erwies sich seine Welt im Grunde als noch fragiler und abstrakter als früher, als er noch Entscheidungen traf. Alles hatte eine unmoralische Dimension und war, wie er das Max gegenüber ausgedrückt hatte, ein Handeln, ohne etwas zu tun, aber es hatte früher zumindest zu Ergebnissen geführt. Jetzt war sein Sprechen einerseits kein Handeln mehr, andererseits noch immer kein normales Sprechen, sondern eine hybride Zwischenbeschäftigung, im Konferenzzimmer, in Kommissionszimmern, in all diesen Arealen der Illusion um das Parlamentsgebäude herum, Lichtjahre von der Realität entfernt. Alles spielte sich in einer Kristallkugel ab, die nur Max mit Hilfe seines dreizehnten und vierzehnten Spiegels, die gerade gebaut wurden, eines Tages vielleicht würde wahrnehmen können.
    »Soll ich das wirklich vier Jahre lang machen?« fragte er Helga verzweifelt, als er auf ihrer Couch lag. »Und dann vielleicht noch mal vier? Dann bin ich zweiundfünfzig! Wie lange kann einer Demokrat ohne Macht sein?«
    »Wer weiß«, sagte sie, »vielleicht kommt bald eine Krise, oder es passiert etwas Unvorhergesehenes, das alles ändert.«
    »O Herr!« rief er aus. »Mach alle Dinge neu!«

    Doch es kam keine unvorhergesehene Krise, und in den vier Jahren, in denen das rechte, hündische, schändliche Kabinett als Pendant zur spanisch-habsburgischen Gewaltherrschaft im sechzehnten Jahrhundert an der Macht war, sah er Quinten noch seltener als zuvor, ein paarmal im Jahr, an seinem Geburtstag, an Weihnachten, während der Beerdigung von Oma To – er hatte kein Auto mit Fahrer mehr und übrigens auch keines ohne, denn er hatte ebenso wie Helga keinen Führerschein: Autofahren, fand er, war etwas für Fahrer, und nichts für Fahrgäste wie ihn. Quinten wurde immer mehr zu einem Ereignis aus der Vergangenheit.
    Auf Groot Rechteren jedoch nahm das Leben auch ohne ihn seinen Lauf. Seit Quinten in jener Nacht auf der Schwelle von Sophias Schlafzimmer erschienen war, hatte sie sich, wie Max erwartet hatte, nicht mehr bei ihm gezeigt. Nach siebenjähriger verborgener Treue, die zugleich ein aufregender Betrug gewesen war, und nach einigen Wochen Zölibat hatte er ein Verhältnis mit einer Sekretärin in der Sternwarte in Dwingeloo angefangen, mit Tsjallingtsje Popma, einer großen, blonden Frau von etwa dreißig Jahren, die eine gute Figur hatte, aber auch von strenger, christlich-ländlicher Erscheinung war.
    Sie sah aus wie eine Skulptur von Arno Breker. Wenn sie ihn in seinem eleganten, weltmännischen Outfit sah, lag ein Ausdruck tiefen Widerwillens und großer Verachtung in ihren Augen, doch es hatte ihn kaltgelassen, obwohl er es von Anfang an als Liebeserklärung aufgefaßt hatte, denn so sah man niemanden an, den man kaum kannte. Aber durch seine Enthaltsamkeit noch angestachelt, begann sie ihn von Tag zu Tag mehr zu reizen. Gleich am ersten Abend, nachdem er ihr vorgeschlagen hatte, sich in der tosenden Stille auf der Heide den Neumond anzusehen, wandelte sich ihr tugendhafter Widerwille in zappelnde Geilheit und lautes Schreien, »O Gott! O
    Gott!«, das die Birkhühner und Heidefrösche aufschreckte, so daß er, mit der Hose in den Kniekehlen, lachend innehielt und horchte, ob sich keine zu Hilfe eilenden Astronome näherten.
    Aber danach: Blut und Tränen. Er hatte sie entjungfert.
    »Ich schäme mich so. Ich kenne dich nicht einmal –«
    »Das haben wir also gemeinsam.«
    Sie bewohnte in Steenwijk ein Zimmer über einer kleinen Bürobuchhandlung, wo auch Ansichtskarten und Fotoalben verkauft wurden. Er begann sie auch wegen der rührend mädchenhaften Einrichtung mit der kleinen Sammlung alten Blechspielzeugs zu mögen; da es in den letzten Jahren zu teuer für sie geworden war, kaufte er, wenn er in Leiden war, ab und zu ein buntes, aufziehbares Vögelchen. Sie redeten nicht viel und am wenigsten von ihm und seinem Leben; sie hörten Musik, er entfaltete seine Radiokarten, sie strickte einen Pullover mit Zopfmuster, den er würde tragen müssen, und nachdem er geduscht hatte, fuhr er nach Hause. Obwohl sie ihn einmal darum gebeten hatte, nahm er sie nie mit nach Groot Rechteren, allerdings weniger aus Rücksicht auf Sophia.
    Da tagsüber schließlich nie

Weitere Kostenlose Bücher