Die Entdeckung des Himmels
endete das Jahr 1984.
Der Abrißunternehmer bewohnte Anfang 1985 das ganze untere Stockwerk, was zur Folge hatte, daß die anderen Bewohner die Vordertür nicht mehr benutzen durften; Begründung: Er wünsche keine Lauferei in seinem Wohnbereich.
Von da an mußten alle den ehemaligen Lieferanteneingang auf der Seite nehmen, dann durch den Fahrradkeller und die sich anschließenden Keller, bis sie über die frühere Personaltreppe auf der Rückseite des Schlosses in den ersten Stock gelangten. Wie die Kellerräume war dieses Treppenhaus seit Jahren vollgestellt mit Gerümpel, durchgerosteten Eimern, kaputten Stühlen, Teppichrollen; wen das störe, sagte Korvinus, solle den Plunder eben wegräumen, und wem das nicht passe, könne ja gehen. Nederkoorn war der einzige, der die Treppe zum ersten Stock weiterhin benutzen durfte.
Als Proctor von dieser Verfügung hörte, drehte er durch.
Bisher schien es, als seien die häuslichen Veränderungen an ihm vorübergegangen, da er mit seinen Gedanken ganz und gar bei seinem großen Buch über Vondels Lucifer war; eines Nachmittags jedoch kam er mit einer Axt die Treppe heruntergestürmt und begann brüllend auf die neue Zwischentür einzuhacken. Es kostete Clara, Sophia und Selma eine geschlagene Stunde, den zitternden Übersetzer zu beruhigen. Er lasse sich nicht auf die Hintertür abdrängen, wiederholte er unaufh örlich und trank hastig ein Glas Wasser leer, seit zwanzig Jahren gehe er durch die Vordertür aus und ein, und dieser Halunke brauche nicht zu glauben, daß er ihn nach Belieben zur Hintertür abkommandieren könne. Nicht einen Tag länger bliebe er hier!
Jeder rechnete damit, daß Korvinus jetzt erst recht andere Saiten aufziehen werde, aber er reagierte mit erstaunlicher Zurückhaltung; noch am selben Tag ließ er die Tür reparieren und verlor über den Vorfall nicht ein Wort. Max erklärte sich das damit, daß er sein Ziel Schritt für Schritt näher kommen sah und immer weniger unternehmen mußte, um die letzten Bewohner moralisch zu brechen; ab und zu plötzlich den Strom abzuschalten oder das Wasser abzudrehen reiche vollkommen. Quinten jedoch vermutete, ihn würde vielleicht die Freundschaft zwischen Arend Proctor und Korvinus’ Sohn Evert, die unzertrennlich waren, davon abhalten.
»Meine Hütte haben die beiden auch kaputtgemacht«, sagte er.
»Woher willst du wissen, daß sie das waren?« fragte Sophia.
Quinten zuckte mit den Schultern.
»Das weiß ich nicht. Aber es ist so.«
Obwohl Marius Proctor angekündigt hatte, keinen Tag länger mehr zu bleiben, machte er keine Anstalten auszuziehen, die Axthiebe hatten seine Willenskraft offenbar aufgebraucht.
Er zog erst aus, nachdem in der Neujahrsnacht die Polizei bei ihm geklingelt hatte: Es sei ein schwerer Unfall passiert. Sein Sohn und Evert Korvinus hätten zuviel getrunken und dann ein Auto gestohlen, auf einer vereisten Straße seien sie aus der Kurve getragen worden und gegen einen Baum geprallt. Evert Korvinus, der am Steuer gesessen habe, sei lebensgefährlich verletzt, werde es aber vielleicht überleben. Und Arend Proctor, ja, der sei leider tot.
Die Nachricht erschütterte Groot Rechteren bis in seine psychischen Fundamente. Den ganzen Neujahrstag über waren Sophia und Selma damit beschäftigt, Marius und Clara beizustehen, die beide nicht mit ihrer Verzweiflung fertig wurden. Max wußte von Kindesbeinen an, daß alles und auch das Schlimmste immer jeden Augenblick passieren konnte, aber auch er war den ganzen Tag wie benommen: Plötzlich war wieder diese Erinnerung an einen anderen Unfall da, vor siebzehn Jahren. Korvinus ließ sich nicht blicken. Seine Frau – es stellte sich plötzlich heraus, daß sie Elsa hieß – versuchte über Sophia mit Arends Eltern in Kontakt zu kommen; aber Proctor schrie Clara an, er werde sie umbringen, wenn sie mit ihr spreche. Arend sei tot, aber ihr Sohn lebe, und außerdem habe sie noch einen zweiten! Quinten hörte ihn mit sich überschlagender Stimme schreien, das ganze Leben sei ein einziger Misthaufen, es habe doch alles keinen Sinn, und es sei überhaupt eine einzige sinnlose Schweinerei!
Während Quinten mit angehaltenem Atem auf dem Flur horchte, fragte er sich, wie man so etwas sagen konnte. Vielleicht sprach man solche Dinge nur aus, wenn jemand starb oder wenn man selbst starb, aber hatte man damit auch recht, oder vielleicht gerade unrecht? Verbarg sich die eigentliche Wahrheit im Tod oder im Leben? Wenn man das Leben für sinnlos
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