Die Entdeckung des Himmels
lag es im dunkelroten Samt, dessen Ränder von Motten angefressen waren.
Es hatte die Form eines Menschen, mit breiten Hüften, einer Taille und einem Oberkörper mit Schultern, und am Ende des langen Halses der Wirbelkasten und die Schnecke, die aussahen wie ein kleiner Kopf, wie der Kopf eines Straußenvogels.
Die symmetrischen Schallöcher auf beiden Seiten des Stegs waren wie Fußabdrücke. Vorsichtig nahm er das Instrument aus dem Kasten – am Boden war die Verkleidung fast völlig weggefressen – und legte es feierlich auf sein Bett. Er setzte sich daneben wie neben einen Menschen und betrachtete es still. Vielleicht war das sogar mehr seine Mutter, als es seine Mutter jetzt noch war. Er betrachtete die Saiten, die von ihren Fingern berührt worden waren, die Zargen, die sie zwischen ihren Oberschenkeln gehabt hatte, alles barg mehr Erinnerungen an sie, als sie selbst an sich hatte.
Nach einer Weile stand er auf und ging ins vordere Zimmer. Sophia war gerade dabei, die Bilder auf dem Kaminsims abzustauben, und er fragte sie, ob er kurz ihr Zentimetermaß haben könne; als sie sagte, sie vermisse es schon seit einiger Zeit, ging er zu Theo Kern und lieh sich einen Zollstock aus.
Dann maß er genau die Länge der A-Saite, vom Sattel bis zum Kamm: 62 Zentimeter. Jetzt müßte er sie zupfen, aber daß er nach all der Zeit dem Cello wieder einen Ton entlocken sollte, war eine Vorstellung, an die er sich erst kurz gewöhnen mußte.
Mit dem Nagel des Zeigefingers schlug er die Saite schließlich an und lauschte dem singenden Ton nach. Er zog die Stirn kraus. Seiner Meinung nach war das einen halben Ton zu tief. Auf seiner Blockflöte blies er ein a: Er hatte recht, auf dem Cello erklang ein gis. Obwohl es weiter keine Rolle spielte, versuchte er die Saite zu stimmen, aber der Stimmwirbel war nicht zu bewegen. Daraufh in bestimmte er mit dem Zollstock die Mitte der Saite, 31 Zentimeter, legte den einen Zeigefinger auf diesen Punkt und schlug sie mit dem anderen an. Als er das gleiche gis hörte, das zugleich auch nicht das gleiche war, richtete er sich auf und schaute sich mit einem triumphierenden Lachen um. Es stimmte! Pythagoras! Platon! Er hatte einen Klang aus der Mitte der Welt aufgefangen!
Plötzlich ließ er alles stehen und liegen und rannte die Treppe hinunter zur Diele. Unten riß Korvinus die Tür auf und herrschte ihn an, daß es in diesem Haus auch noch andere Leute gebe und ob er sich vielleicht etwas mäßigen könne, aber er sah ihn nicht einmal an. Er rannte über den Vorplatz, wo Nederkoorn Evert Korvinus in seinem Jeep das Autofahren beibrachte mit Arend auf der Rückbank, und lief über die beiden Brücken zur rechteckigen Wiese hinter Klein Rechteren. Dort ließ er sich in den Graben fallen und sah außer Atem und verschwitzt die rotbraune Kuh, die mit mahlenden Kiefern kurz seinen Blick erwiderte und dann beruhigt ihre Mahlzeit fortsetzte. Der Himmel war noch immer bedeckt, aber jetzt mit merkwürdigen, dahinjagenden Wolken, die in der Mitte dunkelviolett, an den Rändern aber ganz hell waren, es schien, als stiegen sie senkrecht aus der Tiefe auf. Es war windstill und schwül.
Aufgeregt schaute er über die dunklen Bäume, die die Wiese säumten, auf die grasende Kuh zwischen den beiden Erlen und auf die drei Findlinge, die dalagen wie in einem japanischen Garten. Er war sich plötzlich ganz sicher, für etwas Ehrfurchtgebietendes bestimmt zu sein, es war, als hätte er eine Botschaft bekommen, einen Auftrag zu etwas, das nur er ausführen konnte! Aber was? Wie konnte er es herausfinden? Hatte es vielleicht mit dieser ganz anderen Zeit zu tun, die Herrn Themaat zufolge angebrochen war? In diesem Augenblick erschien auf der anderen Seite zwischen den Bäumen ein Hirsch, blieb stehen und schaute über die Wiese – und im nächsten Augenblick, keiner würde es ihm glauben, blies plötzlich ein so starker Wind in Quintens Gesicht, daß der ganze Wald von einer Sekunde auf die andere rauschte wie das Meer, zwischen den Stämmen wurden die Blätter in hohen Wellen über die Wiese geweht, und der Hirsch verschwand mit ein paar Sprüngen wieder im Dunkel des Unterholzes.
48
Geschwindigkeiten
Als Ferdinand Verloren van Themaat Anfang Dezember für unbestimmte Zeit von einer psychotherapeutischen Anstalt in Apeldoorn aufgenommen wurde, hieb Elsbeth den Knoten durch und zog ebenfalls dorthin. Korvinus nahm ihre Wohnung sofort in Beschlag. Von da an wurde Paco nicht mehr an die Kette gelegt. So
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