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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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gewesen. Er war froh, sich für den Abend mit Tsjallingtsje verabredet zu haben.
    Kloosterboer, der Arzt, den Sophia gebeten hatte zu kommen, bestätigte die Diagnose. Max und sie saßen nebeneinander vor dem Schreibtisch und sahen den jungen Gynäkologen an, der mit seinem kurzen blonden Haar und seinen hellblauen Augen wie ein Tennislehrer aussah.
    »Wie weit ist es fortgeschritten?« fragte Sophia.
    Der Arzt nickte.
    »Es gibt Metastasen. Operieren hat keinen Sinn mehr.«
    »Ja, das wäre auch ein Ding«, sagte Max.
    Der Arzt fixierte ihn.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Eine Frau, die seit siebzehn Jahren im Koma liegt und wie eine Pflanze lebt, die operiert man doch nicht. Auch wenn es einen Sinn hätte, hätte es dennoch keinen Sinn.«
    Kloosterboer verschränkte die Arme.
    »Damit wir uns von Anfang an recht verstehen, Herr Delius.
    Wenn es einen Sinn hätte, würden wir es tun.«
    Max und Sophia wechselten Blicke.
    »Und jetzt?« fragte Sophia. »Chemotherapie? Bestrahlung?«
    »Das nun auch wieder nicht.«
    »Und Schmerzmittel?« fragte Max. »Es würde mich interessieren, ob Sie ihr auch Schmerzmittel verabreichen.« Er bemerkte, daß Kloosterboer diese Frage nicht paßte, denn er zögerte mit seiner Antwort. »Ich meine, wenn Sie ihr keine Schmerzmittel geben, wie ist dann eigentlich Ihre Haltung dazu? Wie paßt das zusammen?«
    Das Gesicht des Arztes spannte sich.
    »Ich habe das vollste Verständnis für Ihre Auffassungen und für Ihre Situation, aber ich kann absolut nicht darauf eingehen. Sie müssen versuchen, auch mich zu verstehen.«
    »Das tun wir ja«, sagte Sophia und stand auf.
    Kloosterboer rollte seinen Stuhl zurück.
    »Ich werde Sie auf das Zimmer Ihrer Tochter bringen.«
    »Machen Sie sich bitte keine Umstände. Wir finden den Weg.«
    Während sie die Gänge entlanggingen, sagte Max, daß Kloosterboer mit Sicherheit ein christlicher Fundamentalist sei, so flott er auch aussehe.
    »Vielleicht ist er einfach nur jung«, wandte Sophia ein, »und hat Angst um seine Karriere.«
    Ja, sie kannte die medizinische Welt besser als er. Aus den Augenwinkeln beobachtete er kurz die sehr aufrecht gehende, ergrauende Äbtissin an seiner Seite, aus der er immer noch nicht schlau wurde. Sie bekam immer mehr Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Und jetzt mußte er endlich mit ihr darüber sprechen. Er verzögerte seinen Schritt.
    »Sag, was soll nun deiner Meinung nach geschehen?«
    »Das muß Adas Mann entscheiden.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Das muß Adas Mutter entscheiden. Ich kann mich übrigens erinnern, daß Onno dir das auch geschrieben hat.«
    »Was hat er geschrieben?«
    »Daß Ada Fleisch aus deinem Fleische ist, und daß du das letzte Wort haben sollst, wenn Entscheidungen über sie getroffen werden müssen. Damit kann er nichts anderes gemeint haben als die Situation, in der wir uns jetzt befinden.«
    Sie blieb stehen und sah ihn unverwandt an.
    »Sie haben vor, sie langsam sterben zu lassen, aber ich finde, es muß ein Ende gemacht werden. Sehr aktiv – mit einer Morphin-Infusion. Aber darauf können wir hier nicht hoffen. Hier wird der Stab bestenfalls darüber beraten, ob sie abstinieren sollen, aber –«
    »Abstinieren?«
    »Die Ernährung einstellen. Aber das werden sie nicht, denn was dann passiert, ist für das Personal zu schrecklich. Dann trocknet sie langsam aus, bis sie ein Skelett ist.«
    Max schauderte.
    »Mit anderen Worten«, sagte er, »sie muß weg von hier, in ein aufgeklärteres Krankenhaus, wo sie nicht solche Angst haben, daß die Sache in die Presse kommt. Nach Amsterdam.«
    »Vorausgesetzt, man läßt sie gehen und es geht ihnen nicht zu sehr an die Ehre. In Krankenhäusern ist das so. Sie braucht auch gar nicht unbedingt in ein Krankenhaus, jeder vernünftige Arzt tut es, das weiß jeder, und auch die Staatsanwälte wissen es, aber darüber reden tut keiner.«
    Er sah sie an.
    »Meinst du, daß wir sie ins Schloß nehmen sollten?«
    »Nein, natürlich nicht«, sagte sie sofort, »mit Quinten –«
    »Und was machen wir mit ihm? Soll er wissen, was los ist?«
    Unsicher sah Sophia ihn an.
    »Was hat es für einen Sinn, sein Leben damit zu belasten?«
    Im Gesellschaftsraum saßen Patienten und Pfleger und verfolgten ein Schlittschuhrennen im Fernsehen; ein junger Mann zeigte ihnen das Zimmer, in dem Ada lag. Max wußte nicht mehr, wann er sie zuletzt besucht hatte, vielleicht vor vier oder fünf Jahren, und vielleicht war es sogar noch länger her, aber was er jetzt verborgen

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