Die Entdeckung des Himmels
hielt, mußte man den Tod dann nicht gerade für sinnvoll halten? Es sah so aus, als bringe Proctor alles durcheinander. Wenn er Arends Tod für sinnlos hielt, dann müßte er doch das Leben für sinnvoll halten! Was würde es sonst ausmachen, daß Arend tot war? Warum schrie er dann so?
Vielleicht hing es davon ab, wer und wie man war. Sein Vater, von dem er nun schon seit drei Jahren nichts gehört hatte, hatte vielleicht auch nicht verstanden, wie es genau war. Und er selbst? Er mußte an den Unfall seiner Mutter und an den Tod von Tante Helga denken, aber ansonsten berührte ihn die Nachricht von dem Unfall der beiden Freunde nicht: Sie hätten eben seine Hütte nicht zerstören sollen!
In der Nacht raubte ihm das Jammern im Stockwerk über ihm den Schlaf. Er stieg aus dem Bett und stellte sich ans Fenster. Der Schloßgraben war zugefroren und lag im eiskalten Licht der Sterne. Plötzlich nahm das Brüllen und der Lärm in Proctors Arbeitszimmer unbändige Formen an, und kurze Zeit später sah er Papiere an seinem Fenster vorbeisegeln, denen Regenschirme und noch mehr Papiere folgten, manchmal gleich stapelweise, die alle in der Luft zerflatterten.
Nachdem die Proctors eine Woche nach Arends Beerdigung ausgezogen waren, vergrößerte Nederkoorn seine Wohnung, indem er die der Proctors dazunahm. Von da an waren Max’ und Theos Wohnungen zwischen zwei feindlichen Wohnungen eingeklemmt, wie zwischen den Kiefern eines Ungeheuers.
Aber Max und Sophia waren sich einig, daß sie aus Solidarität mit Theo und Selma jetzt nicht mehr wegkonnten. Evert Korvinus war von der Hüfte an querschnittsgelähmt und mußte den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen, wie Sophia von seiner Mutter erfuhr. Der Abrißunternehmer würde also in nächster Zeit den Mund nicht mehr so weit aufreißen und wohl auch kaum versuchen, ihnen das letzte Jahr ihres Mieterschutzes zu verderben – und sei es nur, weil Elsa Korvinus das Sprechverbot gebrochen hatte.
Max, der von seiner Arbeit am Quasar MQ 3412, der sich immer rätselhafter verhielt, völlig in Anspruch genommen wurde, freute sich über die Aussicht auf ein Jahr der Ruhe, aber es war ihm nicht vergönnt. Schon seit Monaten verschlechterte sich Adas Zustand merklich. Zuerst gab es Probleme mit der Verdauung: mal hatte sie Verstopfung, dann wieder Durchfall, und schließlich wurde eine chronische Nierenbeckenentzündung als Folge ihres Blasenkatheters festgestellt. Eines Tages im Februar, als wegen der sibirischen Temperaturen auf Groot Rechteren die Ölöfen auch auf der höchsten Stufe die Zimmer nicht mehr zu heizen vermochten, kam Sophia mit einer noch ernsteren Nachricht aus Emmen zurück. Sie war zur Direktorin gegangen, um mit ihr über den Pilz in Adas Mund zu sprechen; sie hatte dabei erfahren, daß Ada vermutlich demnächst in ein Krankenhaus überführt werden müsse. Sie habe Zwischenblutungen gehabt, und nach Aussage des zuständigen Arztes sehe es ganz nach einem Gebärmutterkrebs aus.
Während sie das erzählte, hatte ihr Gesicht wieder diesen maskenhaften Ausdruck, den Max so gut von ihr kannte. Daß Ada – das heißt, ihr armseliger Körper – während der ganzen siebzehn Jahre jeden Monat die Periode bekommen hatte, schockierte ihn mehr als der Bericht von ihrer Krankheit, denn die hatte fast etwas Hoffnungsvolles: sie war der Auftakt vom Ende dieser absurden Existenz. Nach einer Weile fragte er:
»Ob das jetzt die Stunde der Wahrheit ist?«
Seit Onno und er damals ihre lächerlichen Aktionen unternommen hatten, als der Kaiserschnitt anstand, hatten sie nie mehr über Euthanasie gesprochen. Mit Sophia hatte er kein einziges Mal darüber geredet, obwohl sie diese Frage natürlich beschäftigte. Sie antwortete nicht, aber er sah ihr an, daß sie dachte wie er.
Auch zehn Tage später, als er mit ihr ins Krankenhaus von Hoogeveen fuhr, sprachen sie nicht darüber. Als er die Wagentür abschloß und sich im knirschenden Schnee umsah, wunderte ihn, daß hier alles noch genauso war wie an dem Abend des Unfalls, diesem verhängnisvollen siebenundzwanzigsten Februar, an dem Onno und er in Dwingeloo ihre gemeinsame Empfängnis gefeiert hatten. Er erinnerte sich plötzlich auch an den Taxifahrer, der ihn nicht nach Leiden hatte bringen wollen, wo Sophia Witwe geworden war. Daß Ada hier nun zum zweiten Mal hereingebracht wurde, gab ihm das Gefühl, als schlösse sich der Kreis – und sich schließende Kreise waren immer das Signal für einschneidende Veränderungen
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