Die Entdeckung des Himmels
hinter einem Schirm zu sehen bekam, sah er zum ersten Mal. Er erstarrte.
Im grellen, weißen Schneelicht erinnerte ihr Kopf an eine aufgeschnittene Kokosnuß, die er vor Jahren, als er noch in Amsterdam lebte, vergessen hatte, wegzuwerfen, und die bei seiner Rückkehr aus dem Urlaub noch auf der Schale lag. Ihr stoppeliges Haar war grau und stumpf geworden, das abgemagerte Gesicht voller Flecke und die Nasenflügel von der Sonde rot und entzündet. Daß ein Körper unter dem Laken lag, war kaum noch zu sehen. Ihre dürren weißen Hände sahen aus wie Vogelkrallen; alle Fingerspitzen waren verbunden.
»Das hast du mir nie erzählt«, sagte er entsetzt.
»Du hast mich nie danach gefragt.«
Er ertappte sich bei dem Gedanken, daß nun sofort Schluß damit sein mußte, innerhalb von fünf Minuten – er betrachtete das, was noch von ihr übrig war in dem eisernen Bett, während zugleich vergilbte Bilder durch seine Erinnerung schwirrten: bei ihren Eltern zu Hause mit dem Cello zwischen den Beinen, die Fingerspitzen auf den Saiten, nackt im Schneidersitz ihm gegenüber auf seinem Bett, mit den Beinen um seine Hüften im warmen, nächtlichen Meer –. Mit zuckendem Zwerchfell wandte er sich ab und sah aus dem Fenster auf den blendenden, von der Sonne beschienenen Schnee.
Nie zuvor war er so von seiner Arbeit erfüllt gewesen wie in den letzten anderthalb Jahren. Morgens, wenn er noch nicht wach war, aber auch nicht mehr schlief, genau auf der Grenze, erschien sofort MQ 3412 in seinem Kopf – aber in Gestalt eines chaotischen Knäuels aus Daten, Diagrammen, Spektren, Radiokarten, Satelliten-Röntgenaufnahmen, unsinnigen Interpretationen und verrückten Phantasien, und das alles unentwirrbar verschlungen zu einem Knoten, einem Wollknäuel, mit dem die Katze gespielt hatte, und obendrein umgeben von dem Strahlenkranz eines Fluches: es war alles falsch, er befand sich auf einer völlig falschen Spur, es war ein durch und durch hoffnungsloser Unsinn. Doch dieses deprimierte Aufwachen kannte er mittlerweile, es hatte angefangen, als er sich angewöhnt hatte, jeden Abend noch eine Flasche Wein zu trinken, in letzter Zeit manchmal auch zwei; wenn er sich dann schlafen legte, war er jedesmal überzeugt davon, auf der Schwelle zu einer welterschütternden Entdeckung zu stehen.
Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, sich nicht weiter darum zu kümmern. In dem Augenblick, da er seine Daumengelenke hatte knacken lassen und die Decke zur Seite schlug, war der größte Trübsinn bereits verflogen.
Auch am Montag, dem 11. März 1985, war es so. An diesem Vormittag würden die ersten Daten der Very Long Baseline Interferometry eintreffen, des Teleskops, das so groß war wie die ganze Erde. Mit den Technikern hatten auch einige junge Astronomen aus Leiden die Nacht an den Bildschirmen in Westerbork verbracht; er selbst jedoch rief nicht einmal an, beim Frühstück blätterte er anfangs noch mürrisch in der Zeitung. Tschernenko war tot, nur vier Stunden später hatte das Zentralkomitee im Kreml bereits einen Nachfolger gewählt, einen gewissen Gorbatschow, aber auch der würde vermutlich nichts ändern, es würde sich nie mehr etwas ändern, der kalte Krieg war ewig. Durch seinen Kopf schwirrte der Rest eines Traumes, ein Bild von Ada: wie auf einer Explosionszeichnung eines Motors schwebten ihre Organe außerhalb ihres Körpers in der Luft.
Max stand leise stöhnend auf. »Ich esse heute abend bei Tsjallingtsje.«
»Kommst du noch nach Hause?« fragte Sophia.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte er. »Mal sehen.«
Mit einer Hand strich er im Vorbeigehen kurz über Quintens Schulter und sagte: »Mach’s gut.«
Während er durch den diesigen Frühlingsmorgen nach Westerbork fuhr, hörte er im Radio Schuberts Unvollendete von Böhm. Die Aufnahme war immer noch unvergleichlich schön, er kannte jede Note, wie mittlerweile bei fast aller Musik, die er liebte.
Wenn er erst einmal im belebten Terminal war, war der Tiefpunkt überwunden, und er studierte wieder ebenso neugierig die Computerausdrucke, die Floris ihm gab, wie ganz am Anfang, als er nur halb so alt war, allerdings hatte es damals noch keine Computerausdrucke gegeben. Die Zeit, die seitdem vergangen war, hatte an seinem Interesse nichts geändert. Was hingegen sehr viel mit dem Verstreichen der Zeit zu tun hatte, war der Quasar, und mit einem Blick erkannte er, daß irgend etwas überhaupt nicht stimmte.
»Viel Erfolg«, sagte Floris sarkastisch. »Du kannst den
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